Joyland

von: Stephen King

Heyne, 2014

ISBN: 9783641147075 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Joyland


 

In der Abdeckerei saßen ein gutes Dutzend neue Hilfskräfte und eine Handvoll alte Hasen über ihrem Mittagessen. Zwei der Grünschnäbel waren Hollywood Girls, aber ich hatte keine Zeit, mich zu zieren. Nachdem ich mich so lange über den Trinkbrunnen gebeugt hatte, bis mein Bauch voll war, zog ich mich bis auf die Unterwäsche und Turnschuhe aus. Dann schüttelte ich das Howie-Kostüm zurecht und schlüpfte hinein, wobei ich darauf achtete, dass die Füße auch ja ganz in den Pfoten steckten.

»Fell!«, rief einer der alten Hasen und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Fell! Fell! Fell!«

Die anderen stimmten mit ein, und die Abdeckerei hallte von den Anfeuerungsrufen wider, während ich halb nackt dastand, um die Füße herum ein zusammengeknülltes Howie-Kostüm. Ich kam mir vor, als wäre ich in einer Gefängniskantine in einen Aufruhr hineingeraten. Nur selten habe ich mich so maßlos dumm gefühlt … oder so eigentümlich heroisch. Schließlich war ich jetzt im Showgeschäft und sprang in die Bresche. In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass ich keine Ahnung hatte, was ich da tat.

»Fell! Fell! FELL! FELL!«

»Verdammt, vielleicht macht mal jemand den Reißverschluss zu!«, brüllte ich. »Ich muss schnellstens ins Wiggle-Waggle!«

Eines der Mädchen erwies mir die Ehre, und mir wurde auf der Stelle klar, warum um die Hundekostüme ein so großes Theater gemacht wurde. Die Abdeckerei war klimatisiert – sämtliche unterirdischen Räumlichkeiten in Joyland waren das –, aber mir brach augenblicklich der Schweiß aus.

Einer der alten Hasen kam herüber und tätschelte mir freundlich den Howie-Kopf. »Ich bring dich hin, mein Sohn«, sagte er. »Die Karre steht da drüben. Steig ein.«

»Danke!« Meine Stimme klang dumpf.

»Wau, wau, Zottel!«, rief irgendjemand, und schallendes Gelächter ertönte.

Wir rollten den Boulevard mit seinen schauerlich flimmernden Neonlampen entlang – ein grauhaariger alter Mann in grünen Hausmeisterklamotten mit einem riesigen blauäugigen Schäferhund auf dem Beifahrersitz. Er hielt vor einer Betontreppe, auf der ein Pfeil und die Buchstaben WIGWAG prangten, und sagte: »Denk daran – nicht reden. Howie redet nie. Er knuddelt die Kleinen nur und tätschelt ihnen den Kopf. Viel Glück, und wenn dir schummrig wird, dann mach, dass du Land gewinnst. Die Kinder wollen nicht sehen, wie Howie einen Hitzschlag bekommt und umkippt.«

»Ich hab keine Ahnung, was ich tun soll«, sagte ich. »Mir hat niemand irgendwas erklärt.«

Ich weiß nicht, ob mein Fahrer ein Schausteller von altem Schrot und Korn war, aber er wusste, wie es in Joyland lief. »Das macht nichts. Alle Kinder lieben Howie. Und die wissen, was zu tun ist.«

Ich kletterte aus dem Wagen und wäre dabei fast über meinen Schwanz gestolpert. Hastig packte ich die Schnur in meiner linken Pfote und riss daran, um das verdammte Ding aus dem Weg zu kriegen. Dann schwankte ich die Treppe hinauf und fummelte, oben angekommen, am Griff der Tür herum, die ins Freie führte. Ich konnte Musik hören, etwas, woran ich mich vage aus meiner Kindheit erinnerte. Schließlich bekam ich die Klinke zu fassen. Die Tür öffnete sich, und für einen Moment blendete mich das grelle Junilicht durch das Gittergewebe von Howies blauen Augen hindurch.

Die Musik wurde lauter. Sie dröhnte aus Lautsprechern über mir, und jetzt erkannte ich sie: Es war der »Hokey Pokey«, ein Dauerbrenner in allen Kindergärten. Ich sah Schaukeln, Rutschen und Wippen, ein riesiges Klettergerüst und ein kleines Karussell, das von einem Grünschnabel angeschoben wurde, der flauschige Kaninchenohren trug und ein Stummelschwänzchen am Hosenboden seiner Jeans. Die Choo-Choo Wiggle, eine Kindereisenbahn, die auf satte vier Meilen pro Stunde beschleunigen konnte, dampfte vorbei, randvoll mit kleinen Kindern, die gehorsam ihren mit Kameras bewaffneten Eltern zuwinkten. Eine Unmenge von Kindern tollte hier herum, überwacht von zahlreichen Saisonkräften sowie von zwei Vollzeitangestellten, die wahrscheinlich als Erzieher ausgebildet waren. Diese beiden, ein Mann und eine Frau, trugen Sweatshirts, auf denen WIR LIEBEN GLÜCKLICHE KINDER stand. Mir direkt gegenüber befand sich das lang gezogene Gebäude der Kindertagesstätte Howie’s Howdy House.

Ich entdeckte Mr. Easterbrook sofort. Er saß in seinem Leichenbestatteranzug unter einem Joyland-Sonnenschirm auf einer Bank und aß – mit Stäbchen – sein Mittagessen. Im ersten Moment sah er mich nicht; seine Aufmerksamkeit war auf eine Horde Kinder gerichtet, die von zwei Grünschnäbeln in einer Zweierreihe zum Howdy House geführt wurden. Kleinere Kinder konnten dort (wie ich später herausfand) für maximal zwei Stunden abgegeben werden, während ihre Eltern mit den älteren Geschwistern zu den größeren Fahrgeschäften gingen oder im Rock Lobster zu Mittag aßen, dem exklusiven Restaurant in Joyland.

Außerdem fand ich später heraus, dass nur Kinder im Alter von drei bis sechs im Howdy House aufgenommen wurden. Einige der Kinder, die ich beobachten konnte, wirkten reichlich abgeklärt, wahrscheinlich weil sie Veteranen verschiedener Kindertagesstätten waren, da beide Eltern arbeiteten. Andere dagegen wurden damit nicht so gut fertig. Möglicherweise hatten sie es mit Fassung getragen, als Mami oder Papi ihnen erklärte, sie kämen in ein oder zwei Stunden wieder zurück (als hätten Vierjährige irgendeine Vorstellung davon, wie lange eine Stunde ist), aber jetzt waren sie auf sich allein gestellt, an einem lauten, chaotischen Ort voller fremder Menschen, und von Mami und Papi keine Spur. Nicht wenige der Kinder weinten. Da stand ich nun in meinem dicken Howie-Kostüm, schaute durch das Gittergewebe, das mir als Augen diente, und schwitzte wie ein Schwein. Und wurde Zeuge einer typisch amerikanischen Form von Kindesmisshandlung. Wie konnte man nur auf die Idee kommen, sein Kind – ein Kleinkind, um Himmels willen – in einen Vergnügungspark mitzunehmen, nur um es dann völlig fremden Babysittern zu überlassen, wenn auch nur für kurze Zeit?

Den diensttuenden Grünschnäbeln entging nicht, dass immer mehr Kinder in Tränen ausbrachen (panische Angst ist eine Kinderkrankheit unter vielen, wie die Masern), aber ihnen war anzusehen, dass sie keine Ahnung hatten, was sie dagegen tun sollten. Woher auch? Es war ihr erster Tag, und sie waren ihrem Schicksal genauso unvorbereitet überlassen worden wie ich, als Lane Hardy davonspaziert war und ich mich plötzlich allein um das Riesenrad kümmern sollte. Aber wenigstens dürfen Kinder unter acht Jahren nur in Begleitung Erwachsener aufs Riesenrad, dachte ich bei mir. Während die kleinen Blagen hier völlig allein sind.

Ich wusste genauso wenig, was ich tun sollte, aber mir war klar, dass ich mir etwas einfallen lassen musste. Also marschierte ich, die Vorderpfoten erhoben, auf die Zweierreihe Kinder zu und wedelte dabei wie verrückt mit dem Schwanz (ich konnte ihn zwar nicht sehen, aber dafür umso deutlicher spüren). Und gerade als die ersten Kinder mich bemerkten und mit dem Finger auf mich deuteten, hatte ich eine Eingebung. Die Musik, was sonst! An der Kreuzung Jellybean Road und Candy Cane Avenue blieb ich stehen – direkt unter den plärrenden Lautsprechern. Mit meinen knapp zwei Metern von den Pfoten bis zu den Flauschohren war ich bestimmt ein beeindruckender Anblick. Ich verneigte mich vor den Kindern, die mich alle mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen anglotzten. Und dann fing ich an, den Hokey Pokey zu tanzen.

Der Kummer darüber, von den Eltern im Stich gelassen worden zu sein, war, wenigstens vorübergehend, vergessen. Sie lachten, manche mit tränennassen Wangen. Noch wagten sie sich nicht an mich heran, jedenfalls nicht während ich so unbeholfen herumhüpfte, aber sie drängten sich doch auf mich zu. Die Angst wich blankem Staunen. Mit Howie waren sie alle vertraut; wer in den Carolinas aufwuchs, kannte ihn aus seiner nachmittäglichen Fernsehsendung, und selbst die Besucher aus so weit entfernten und exotischen Städten wie St. Louis und Omaha hatten Prospekte in Händen gehalten oder am Samstagmorgen die Werbung zwischen den Zeichentrickfilmen gesehen. Sie wussten, dass Howie zwar ein großer Hund war, aber er war auch ein braver Hund. Er würde nie beißen. Er war ihr Freund.

Ich streckte den linken Fuß vor und zog ihn wieder an; ich streckte den linken Fuß vor und wackelte damit. Ich tanzte den Hokey Pokey und drehte mich im Kreis, denn darauf kommt es – wie fast alle kleinen Kinder in Amerika wissen – an. Ich vergaß, dass mir heiß war und ich mich unwohl fühlte. Ich dachte nicht mehr daran, dass mir meine Unterhose in der Arschritze steckte. Später würde ich granatenmäßige Kopfschmerzen bekommen, aber in dem Moment ging es mir gut, wenn nicht sogar großartig. Und das Beste? Ich verschwendete nicht einen Gedanken auf Wendy Keegan.

Als die Musik in die Titelmelodie von Sesamstraße überging, hörte ich auf zu tanzen, ließ mich auf eines...