Hedwig Courths-Mahler - Folge 014 - Die Menschen nennen es Liebe

von: Hedwig Courths-Mahler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838752518 , 80 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Hedwig Courths-Mahler - Folge 014 - Die Menschen nennen es Liebe


 

Hans von Ried kam vom Burgberg herab. Da oben lag die alte Schlossruine, in der seine Vorfahren vor Jahrhunderten schon gehaust hatten. Sie war zerfallen, bot aber noch immer einen malerischen Anblick und galt gewissermaßen als Wahrzeichen der ganzen Umgegend.

Die Freiherren Ried von Riedberg waren mit der Geschichte des Landes eng verwachsen. Sie hatten sich oft als Staatsmänner oder Soldaten hervorgetan. Und ihr Besitztum hatte sich vermehrt durch maßvolles, kluges Wirtschaften und durch reiche Heiraten. Seit zweihundert Jahren stand zu Füßen des Burgbergs ein neues Schloss. Es gehörte zu den vornehmsten und geräumigsten Gebäuden des ganzen Landes, obwohl es gerade in der nächsten Umgebung nicht an stattlichen Schlössern und Burgen fehlte.

Seit dem Tod seiner Eltern war Hans von Ried unumschränkter Besitzer eines fürstlichen Vermögens und großer Ländereien. Außer einer Cousine seiner Mutter, der Gräfin Eckhoff, und ihrer Tochter besaß er keine Verwandten.

Da ihm sein Vermögen gestattete, ganz nach seinen Wünschen zu leben, und er auf niemand Rücksicht zu nehmen brauchte, ging er bald nach seines Vaters Tod auf Reisen.

In seine heimatliche Residenz kehrte er nur zuweilen auf einige Zeit zurück, aber lange hielt er es dort nicht aus. Es war ihm lästig, dass er von allen Seiten mit mehr oder minder großer Deutlichkeit daran gemahnt wurde, dass er im heiratsfähigen Alter stand.

Auch in den vornehmen internationalen Badeorten, die er besuchte, wurde eifrig Jagd auf ihn gemacht. Aber man erreichte damit nur, dass er sich zurückhielt von den Frauen. Er hatte vorläufig nicht die Absicht, sich zu verheiraten und führte sein ungebundenes Leben weiter.

Um so mehr war man erstaunt, als er sich plötzlich nach Schloss Riedberg zurückzog. Den Winter hatte er noch in St. Moritz verbracht, und in den ersten Frühlingstagen war er in Venedig gewesen. Von Venedig aus war er dann heimgekommen in das Erwachen des deutschen Frühlings hinein. Er schien die Absicht zu haben, ganz still und zurückgezogen zu leben, und beschäftigte sich eifrig mit seinen Sammlungen, die er im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte. Seinem Haushofmeister sagte er, dass er in Ruhe seine Reiseerinnerungen aufzeichnen wolle. Das galt nun offiziell als Grund für seine Zurückgezogenheit.

Nur er allein wusste, was ihn plötzlich heimgetrieben hatte. In St. Moritz hatte ihn sein Schicksal ereilt. Er, der den Frauen bisher möglichst ausgewichen war, hatte sich in eine Frau verliebt, die sein ganzes Wesen mit großer Leidenschaft erfüllte. Er war entschlossen, sie zu seiner Frau zu machen. Von St. Moritz war er ihr nach Venedig gefolgt – und dort war er zur Erkenntnis gekommen, dass er betrogen worden war, dass er seine Liebe an eine Unwürdige verschwendet hatte. Diese bittere Erfahrung hatte ihn so niedergedrückt, dass er weltmüde heimkehrte.

Dass er eines Tages heiraten musste, wollte sein Geschlecht nicht aussterben, wusste er. Aber seine schlimme Erfahrung ließ ihn den Gedanken an eine Ehe wieder weit zurückschieben. Erst wollte er jetzt in Ruhe und Zurückgezogenheit einige Jahre verbringen, unbelästigt von eroberungssüchtigen Töchtern und Müttern. Und dann, wenn es sein musste, wollte er ruhig und vernünftig eine Lebensgefährtin wählen, weise und bedächtig, ohne jede Illusion. Denn er glaubte, nie wieder ein Weib mit der ganzen Hingabe seines Herzens lieben zu können.

Hans von Ried war am Fuß des Burgbergs angelangt, aber er ging nicht nach Hause, sondern schlenderte noch eine Weile am Flussufer entlang.

Am Waldrand ließ er sich endlich ermüdet nieder. Vor im lag weites Wiesengelände, das vom Fluss durchschnitten wurde. Unweit führte eine Brücke über den Fluss, die die breite Fahrstraße zwischen den Dörfern Riedberg und Buchenau verband. In der Nähe der Brücke war eine Reihe etwa meterhoher Pfähle in regelmäßigen Abständen in der Mitte der Fahrstraße eingefügt. Sie sollten den Fahrverkehr regeln.

Hans von Ried betrachtete gelassen die friedliche Umgebung. Ringsum war es still.

Plötzlich aber tönte ein heller Jauchzer an sein Ohr, und als er, fast ärgerlich, nach dem Störenfried Umschau hielt, erblickte er auf der Fahrstraße einen halbwüchsigen Knaben, der in lustigen Sprüngen dahergetollt kam.

Ab und zu einen jauchzenden Ruf ausstoßend, kam er näher und näher, bis an die Pfähle heran, die die Straße in zwei Hälften schieden. Mit einem vergnügten Jauchzer nahm er einen Anlauf.

„Eins, zwei, drei! Hoppla!“

So lief er. Und bei „Hoppla!“, setzte er mit einem elastischen Sprung über den ersten Pfahl hinweg.

Dann rief er wieder: „Eins, zwei, drei! Hoppla!“ Und der zweite Pfahl wurde genommen.

So ging es vergnügt weiter, von Pfahl zu Pfahl, bis zur Brücke. Hier lockte den lustigen Springinsfeld das Brückengeländer. Er schwang sich empor und lief wie ein Seiltänzer über das Geländer hinweg.

Drüben angelangt, wollte er sich eben anschicken, auch über die jenseitigen Pfähle hinwegzuspringen. Da schienen ihn aber der Graben neben der Straße und die grüne Wiese zu locken. Mit einem mächtigen Anlauf setzte er über den Graben hinweg und überschlug sich dann auf dem weichen Rasen. Das wiederholte er zwei-, drei-, viermal. Die schlanke Gestalt des fröhlichen Menschenkindes schnellte behänd durch die Luft, so dass Hans von Ried ihm fast bewundernd entgegensah.

Der Knabe bewegte sich direkt auf ihn zu, ohne ihn zu bemerken. Endlich schien er sich ausgetollt zu haben, denn dicht vor Hans von Ried blieb er prustend im Gras liegen und stieß atemlos hervor: „So, nun hab ich genug, puh – ist mir warm geworden!“

Nur mit Mühe konnte der stumme Beobachter ein Lachen verbeißen.

Der übermütige Springer atmete tief und regelmäßig die würzige Frühlingsluft ein. Dann tasteten seine Hände über den Rasen und rissen einige Halme aus. Einen dieser Halme nahm er zwischen die Zähne und biss darauf herum. Seine Augen sahen dabei zum blauen Frühlingshimmel empor.

Endlich rief er in lang gezogenen Tönen: „Gouvernante, Gouvernante!“

Wieder eine Weile Ruhe.

Dann sprach er vor sich hin: „Ich möchte doch wirklich wissen, wo sie sich herumtreibt!“

Hans von Ried schüttelte den Kopf. Dieser Knabe, der mindestens fünfzehn Jahre zählen mochte, konnte doch unmöglich noch eine Gouvernante haben!

Jetzt drehte sich der Knabe ein wenig auf die Seite und fuhr in seinem Selbstgespräch fort. „Das Beest ist sicher nach Hause gelaufen und futtert vergnügt, und ich kann nun mit hungrigem Magen hinterherlaufen. Na, warte nur, Racker!“

Hans von Ried dachte bei sich, dass die Gouvernante, die der Knabe als „Beest“ bezeichnete und die „futtern“ sollte, wohl schwerlich sehr beliebt bei ihm sein konnte. Nun man konnte es ihm nicht verdenken. In dem Alter lässt sich ein Junge nur widerwillig von einem weiblichen Zuchtmeister drillen.

Hans von Ried überlegte, wohin der Knabe wohl gehören mochte. Wie ein Bauern- oder Pächtersohn sah er nicht aus. Dieser feingliedrige, gewandte Bursche gehörte sicher besseren Kreisen an. Eine Wegstunde entfernt befand sich Schloss Buchenau. Hans von Ried konnte sich aber nicht mehr besinnen, ob Graf Buchenau einen Sohn in diesem Alter haben konnte. Wohl war Graf Buchenau mit seinen Eltern befreundet gewesen, aber Hans war völlig aus dem Kontakt mit seinem Nachbarn gekommen. Möglich war es immerhin, dass er den Sohn des Grafen vor sich hatte.

Ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, richtete der Knabe plötzlich mit einem jähen Ruck den Oberkörper empor und saß nun, fast Fuß an Fuß, Hans von Ried gegenüber. Grenzenloses Staunen malte sich auf das frische Knabenantlitz, und große, hell leuchtende Braunaugen, in denen goldene Lichter spiegelten, sahen in das schmale, rassige Gesicht des jungen Herrn.

„Nanu! Wie kommen Sie denn hierher?“, fragte er verdutzt.

Hans von Ried lachte.

„Ich saß schon hier, als Sie sich mir im eleganten Salto mortale zu Füßen legten.“

Nun lachte der Knabe auch vergnügt auf.

„Komisch! Ich habe Sie nicht bemerkt. Sitzen Sie schon lange hier?“

Es zuckte amüsiert um den Mund des Gefragten.

„Wohl ein halbes Stündchen.“

„Haben Sie meine Gouvernante nicht vorbeitraben sehen? Das Beest ist mir ausgekniffen“, sagte der Knabe weiter.

„Nein, die Dame, die Sie mit so liebenswürdigen Titeln belegen, habe ich nicht gesehen. Sie scheint sich Ihrer besonderen Vorliebe nicht zu erfreuen“, antwortete Hans von Ried.

„Welche Dame?“, fragte der Knabe verdutzt.

„Nun – Ihre Gouvernante.“

Hell lachte das Bürschlein auf. „Ach so! Das ist ein ulkiges Missverständnis. Gouvernante heißt mein Pferd. Ich war nach Schloss Riedberg hinübergeritten und hatte mich im Hinterhalt auf die Lauer gelegt, weil ich mir mal den berühmten Globetrotter ansehen wollte. Der soll ja tolle Reisen gemacht haben – vom Nordpol bis zum Südpol und rund um den Äquator herum… Ich war abgestiegen und ließ Gouvernante grasen, ohne sie anzubinden. Als ich mich nach einer Weile umsehe, ist der Racker verschwunden. Nun muss ich per pedes apostolorum nach Hause pilgern. Und den tollen Weltumsegler hab ich doch nicht gesehen.“

Hans von Ried lachte herzlich.

„Nun, das haben Sie jetzt sehr bequem – der tolle Weltumsegler sitzt vor Ihnen. Er war übrigens weder am Nord- noch am Südpol – höchstens das mit dem Äquator stimmt.“

Die goldbraunen Augen des Knaben öffneten sich weit. Ein leises Rot huschte über das rosige...