Friesenlüge - Kriminalroman

von: Sandra Dünschede

Gmeiner-Verlag, 2014

ISBN: 9783839243329 , 278 Seiten

4. Auflage

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Friesenlüge - Kriminalroman


 

4. Kapitel


Dirk Thamsen war wie gewöhnlich einer der Ersten auf der Dienststelle. Seit er vor einigen Jahren die Leitung der Niebüller Polizei übernommen hatte, war er immer gegen sieben Uhr im Büro, außer er war krank oder hatte Urlaub. Ersteres war aber seit Jahren nicht mehr vorgekommen und letzteres stand erst in drei Wochen an. Dann begannen nämlich endlich die Sommerferien und er hatte für sich, seine Freundin Dörte und die Kinder eine Reise nach Amerika gebucht. Anne und Timo wussten noch nichts von ihrem Glück. Er hatte ihnen erzählt, sie würden in ein Ferienhäuschen nach Dänemark fahren und dafür auch schon vernichtende Kommentare geerntet. »Das ist doch was für Familien mit Babys.« »Wie langweilig, da ist es doch genau wie hier.« »Null Aktion.«

Thamsen jedoch rieb sich innerlich die Hände, während er schweigend das Gemaule der Kinder ertrug. Das würde eine Überraschung sein. Er freute sich schon sehr, zumal er lange auf die Reise gespart hatte. Außerdem würde es wahrscheinlich der letzte große gemeinsame Urlaub sein, denn Timo war mittlerweile beinahe erwachsen und wäre dieses Jahr lieber mit seinen Freunden als mit seinem alten Herrn in die Ferien gefahren. Thamsen war auf Timos Gesicht gespannt, wenn sie anstatt Richtung Dänemark zum Hamburger Flughafen fuhren.

Er holte sich wie gewöhnlich eine Tasse Kaffee aus der Gemeinschaftsküche und machte sich dann daran, seine Mails durchzugehen. Viel war seit gestern Abend nicht passiert, lediglich ein paar Nachrichten aus dem Presseticker der Polizei sowie eine Anfrage einer Krimiautorin, ob sie einmal die Dienststelle besuchen dürfte und er für ein paar Fragen zur Verfügung stand. Er hatte seit Jahren kein Buch mehr gelesen und musste schmunzeln bei der Vorstellung, dass in dem ersten, das er vielleicht dann wieder in die Hand nehmen würde, er die Hauptfigur sein könnte. Thamsen schrieb der Autorin, er sei gern zu einem Gespräch bereit, und fragte, wann sie vorbeikommen wollte. Wie eine Krimiautorin wohl aussieht, fragte er sich und zuckte zusammen, als es plötzlich an seiner Tür klopfte.

»Herein?« Er nahm an, es sei einer seiner Mitarbeiter und staunte daher nicht schlecht, als eine ältere Dame die Tür öffnete und wie eine Furie auf ihn los stürmte. Gleich darauf stürzte ein Polizist in den Raum.

»Ich bat Sie draußen zu warten.« Er packte die Frau am Arm und versuchte, sie aus Thamsens Büro zu zerren. Doch die Alte wehrte sich mit Leibeskräften.

»Sie müssen meinen Mann finden. Er ist weg«, krakeelte sie. »Sie müssen etwas tun.«

Dirk verfolgte kurz das Handgemenge vor seinem Schreibtisch, stand dann auf und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Nun mal mit der Ruhe. Wir kümmern uns ja, aber Sie müssen sich anständig benehmen und ruhig erzählen, was passiert ist. Ansonsten können wir Ihr Anliegen nicht bearbeiten. Wie ist überhaupt Ihr Name?«

Die ältere Frau, die durch Thamsens Ansprache plötzlich wie versteinert wirkte, schluckte. »Erika Matzen.«

»Und, Frau Matzen, was genau ist passiert?« Er deutete mit seiner Hand auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Erika Matzen zögerte einen Moment. Sie durften keine Zeit verlieren, schließlich war Heinrich nun beinahe 24 Stunden verschwunden. Gemeldet hatte er sich auch nicht. Erika hatte die ganze Nacht vor dem Telefon ausgeharrt, mehrere Male den Hörer abgenommen, um zu überprüfen, ob der Anschluss überhaupt funktionierte. Doch Heinrich hatte nicht angerufen, und von Stunde zu Stunde war ihre Angst größer geworden, bis sie es fast nicht mehr ausgehalten hatte. Da sie keinen Führerschein besaß, hatte sie auf den Schulbus warten müssen. Zwischen plappernden Kindern mit riesigen Tornistern war sie nach Niebüll gefahren. Den restlichen Weg vom ZOB zur Polizeidienststelle war sie beinahe gerannt.

»Ja, mein Mann ist gestern in Hamburg verschwunden«, entschied sie sich nun doch, die ganze Geschichte zu erzählen. Lange würde sie ohnehin nicht brauchen, daher setzte sie sich nur auf die Kante des Holzstuhls. Dirk Thamsen hörte der Frau aufmerksam zu. Er stellte ein paar Fragen und entschied, dass man eine Vermisstenanzeige aufnehmen würde. Etwas seltsam war die Sache, aber wer wusste schon, was zwischen den Eheleuten vorgefallen war und Erika Matzen ihm vielleicht verschwieg.

»Wir leiten die Anzeige an die Kollegen in Hamburg weiter – und dann schauen wir mal«, versuchte er, die Frau ein wenig aufzumuntern. Mehr konnten sie momentan ohnehin nicht tun, denn dass Heinrich Matzen suizidgefährdet sein könnte, hatte seine Frau ausgeschlossen. Erika Matzen nickte langsam, stand aber nicht auf. Sie konnte nicht begreifen, dass das alles war, was die Polizei wegen Heinrichs Verschwinden tat. Sie mussten doch nach ihm suchen. Ganz offensichtlich war ihm etwas zugestoßen. Warum sonst meldete er sich nicht?

»Glauben Sie mir«, versicherte der andere Beamte, der Erika Matzen am Arm griff, um sie vom Stuhl hoch zu ziehen, »die meisten Fälle klären sich schneller auf, als man denkt.«

»Haie, kannst du heute Nachmittag auf Niklas aufpassen?« Tom saß am Frühstückstisch und schnitt ein Marmeladenbrot für seinen Sohn in kleine Quadrate.

»Na sicher passt der Onkel Haie auf dich auf«, antwortete Haie an Niklas gewandt und zupfte dem Kleinen leicht am Ohr. Der jauchzte vor Vergnügen.

»Mehr, mehr!«, forderte Niklas und Haie kam diesem Wunsch zu gern nach. Er liebte den Jungen über alles, auch wenn er nicht sein Sohn war. Wahrscheinlich lag es daran, weil er in dem Kleinen ein Stück von Marlene weiterleben sah und das machte ihn jeden Tag aufs Neue froh. Für Tom hingegen war es oft eine Qual, wenn er in den blauen Augen seines Kindes die so schmerzlich vermisste Geliebte entdeckte, und es stimmte ihn daher oftmals traurig, wenn er sah, wie sehr Niklas nach seiner Mutter kam. Vielleicht war das auch der Grund, warum er den Jungen Haie so oft aufhalste, anstatt sich selbst um ihn zu kümmern. Kaum verwunderlich also, dass Haie und Niklas oft weitaus besser miteinander auskamen als Vater und Sohn. Momentan war Tom das allerdings egal. Er war froh, wieder einigermaßen Boden, wenn auch noch recht wackeligen, unter seinen Füßen zu spüren. Anfangs hatte er gedacht, er packe das mit der Arbeit nicht, aber der Job lenkte ihn zumindest von seiner Trauer ab und brachte ihn wenigstens ab und an auf andere Gedanken.

»Wie geht es denn in Dagebüll voran?«

»Och, eigentlich ganz gut«, entgegnete Tom. »Diese Ferienanlage wird echt ein super Gewinn für die Region. Wenn sie denn endlich fertiggestellt werden kann.«

»Wieso, gibt es Probleme?«

»Naja, ein paar Einheimische sträuben sich, ihr Land zu verkaufen. Kennst ja die sturen Nordfriesen.« Tom steckte eines der Marmeladenquadrate in Niklas weit aufgesperrten Mund. »Ist ja nicht so einfach. Die sollen schließlich ihre Häuser verkaufen, oder? Also würdest du …?«

»Warum nicht?« Seit Marlenes Tod sah Tom viele Dinge anders. Nichts war für die Ewigkeit. Das hatte er mehr als deutlich zu spüren bekommen. Und was machte es dann für einen Unterschied, in welchem Haus man lebte? Die Baufirma machte den Eigentümern zudem großzügige Angebote. »Aber bis auf einen haben wir langsam alle umgestimmt. Ab einer gewissen Summe ist halt doch jeder käuflich.«

»Und auf den einen seid ihr angewiesen?«

Tom nickte. »Leider. Sein Grundstück liegt mittendrin im Baugebiet. Keine Chance drumherum zu bauen.« Das Projekt war für Dagebüller Verhältnisse riesig. Direkt hinter dem Außendeich sollte eine große Feriensiedlung mit über 100 kleinen Häuschen und Wohnungen entstehen. Dazu ein Tennisplatz, eine Badelandschaft und Einkaufsmöglichkeiten. Haie stand dem Vorhaben mit geteilter Meinung gegenüber. Natürlich war es gut, Urlauber in die Region zu locken. Das schaffte Arbeitsplätze, und die konnten sie hier dringend gebrauchen. Viele Möglichkeiten außer dem Tourismus, der Landwirtschaft und ein paar kleineren Unternehmen bot der nördlichste Landstrich des Kreises wirklich nicht. Aber musste man dafür so stark in die Landschaft und das Leben der Einheimischen eingreifen? Außerdem wurde viel freie Fläche bebaut, der weite Blick genommen. Schön sah das jedenfalls nicht aus und ob es der Umwelt gut bekam, wagte Haie auch zu bezweifeln. Die zahlreichen Touristen würden rücksichtslos durch die Landschaft stapfen, Vögel beim Brüten stören, im Watt die letzten Seesterne aufklauben, und auch wenn es verboten war, ihre Strandmuscheln am Deich aufbauen und dadurch den Schutzwall ruinieren. Tom gegenüber hielt sich Haie jedoch mit seinen Argumenten zurück. Er war froh, dass der Freund sich wieder aufgerafft hatte und arbeiten ging. Auch wenn das Projekt, das Tom vorantrieb, ihm ein Dorn im Auge war. »Und was macht ihr, wenn der Typ nicht verkaufen will?«

»Der Typ heißt Heinrich Matzen und hält sich für etwas ganz Besonderes.« Tom war auf den Mann nicht gut zu sprechen, denn bisher waren die Gespräche mit dem Hausbesitzer nicht sonderlich angenehm gewesen. Tom hielt ihn für ein arrogantes Arschloch. »Tja, was sollen wir machen, wenn er nicht verkaufen will?«

Die Mail an die Hamburger Polizei war erst wenige Augenblicke gesendet, da klingelte Thamsens Telefon.

»Peer Nielsen, LKA Hamburg, Mordkommission. Guten Morgen!«

»Moin!«

»Ich rufe wegen der Vermisstenanzeige an.« In Thamsens Magengegend machte sich sofort ein ungutes Gefühl breit.

»Ja?«

»Haben Sie ein Bild von dem Mann?«

»Wieso?«

»Na, wir haben hier eine nicht identifizierte...