Die drei ??? und der höllische Werwolf (drei Fragezeichen)

von: M.V. Carey

Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783440143537 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 5,99 EUR

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Die drei ??? und der höllische Werwolf (drei Fragezeichen)


 

Die Ausreißerin


Auf dem Schreibtisch stand ein Lautsprecher, den Justus aus Teilen defekter Elektronikgeräte vom Schrottlager zusammengebaut hatte. Als der Erste Detektiv nun den Telefonhörer an seine sinnreiche Konstruktion anschloss, konnten alle drei Jungen das Gespräch mithören.

Vorerst war nur heftiges Schluchzen zu vernehmen. Dann sagte eine Männerstimme: »Judy, um Himmels willen, beruhige dich doch!« Es raschelte im Telefon. Dann meldete sich der Mann selbst.

»Justus Jonas?«, fragte er.

»Ja, am Apparat«, bestätigte Justus.

»Sie haben also am Strand ein Leihbuch aus unserer Stadtbücherei gefunden?«

»Ja, Sir.«

»Diesen Band hat meine Tochter hier in Fresno entliehen, kurz bevor sie verschwunden ist.«

»Oh«, sagte Justus.

»Sie ist nämlich nach Hollywood durchgebrannt, um beim Film zu landen.«

Im Hintergrund sagte die Frau mit tränenerstickter Stimme: »Sag ihm, dass wir hinkommen.«

»Mach ich, Judy, schon gut.« Der Mann holte tief Atem. »Ich bin Charles Anderson. Ihr Anruf ist der erste greifbare Hinweis darauf, dass Lucille nicht unbedingt etwas zugestoßen ist. Wir müssen Sie sprechen. Vielleicht lässt sich gemeinsam Licht in die Sache bringen. In dieser Beuteltasche befand sich wohl keine Anschrift?«

»Nein, Mr Anderson«, erklärte Justus. »Keine Anschrift.«

»Bei der Polizei konnte man uns leider nicht weiterhelfen«, fuhr Mr Anderson fort. »Dort sagte man uns nur immer wieder, es gäbe im Raum Los Angeles einfach zu viele junge Leute, die von zu Hause weglaufen. Geben Sie uns bitte Ihre Adresse, dann kommen wir morgen früh zu Ihnen.«

»Gern, Sir.« Justus nannte die Anschrift der Firma Jonas. Mr Anderson bedankte sich und legte auf.

»Tochter durchgebrannt!«, rief Peter nun voll Eifer. »Das könnte ja ein ganz wichtiger Fall für uns drei werden!«

Justus blätterte in dem Buch aus der Bibliothek in Fresno. »Wir wollen nur hoffen, dass das Mädchen bald wieder auftaucht, egal ob wir den Eltern helfen können oder nicht. Wenn ich mich nicht täusche, sind diese Zettel, die Lucille als Lesezeichen benutzt hat, Quittungen von Pfandleihern. Dieser hier stammt von der Firma Hi-Lo Leihhaus und Schmuckhandel, und da ist noch einer von einem Unternehmen namens Schnelles Geld – bar auf die Hand. Sieht mir ganz danach aus, dass das Mädchen total abgebrannt ist.«

Justus klappte das Buch zu und betrachtete nachdenklich den Umschlag. »Deine Fantasie: der Schlüssel zum Erfolg«, las er laut den Titel. Dann sagte er: »Ich habe von diesem Buch gehört. Der Verfasser behauptet, man könne ganz nach Wunsch jeglichen persönlichen oder geschäftlichen Erfolg dadurch erzielen, dass man sich diesen in der Fantasie bildhaft vorstellt: also einen hoch bezahlten Job oder ein tolles Haus mit allen Schikanen oder …«

»Oder eine Traumrolle als Filmstar in Hollywood?« Bob war ein Licht aufgegangen.

»Schon möglich«, meinte Justus. Er schlug wahllos eine Seite des Buches auf und fing an zu lesen: »Vergiss alles, was man dir über den Einsatz deiner Willenskraft erzählt hat. Willenskraft befasst sich mit Einzelheiten, und Einzelheiten würden dich auf deinem Weg behindern. Statt zu schuften und zu stöhnen, musst du dir nur deine Zukunft mit allem Erfolg, den du dir wünschst, ganz bildlich und lebhaft vorstellen. Das ist das große Geheimnis: das Erfolgserlebnis hier und jetzt, nicht als das in ferner Zukunft Erstrebte, sondern als die Realität, mit der du heute schon lebst.«

»Danke, es reicht!«, fand Peter grinsend. Justus legte das Buch auf den Tisch und die drei ??? verließen ihre Zentrale.

Ihr könnt euch das, was die junge Ausreißerin Lucille Anderson bewegt, sicherlich schon recht gut vorstellen: große Hoffnungen, ja Illusionen und speziell die etwas vage Vorstellung, eine Traumkarriere in der Filmwelt zu schaffen, ohne dafür einen vielleicht langen und arbeitsreichen Weg gehen zu müssen. Es steht zu befürchten, dass Lucille mit dieser doch ziemlich naiven Einstellung in schlechte Gesellschaft, wenn nicht sogar in Gefahr geraten könnte. Sie zu finden und ihr vielleicht zu helfen wird eine schwierige und risikoreiche Aufgabe für die Jungen werden. Solche ungeahnten Folgen scheint also der Fund einer harmlos scheinenden Plastiktasche nach sich zu ziehen! Doch ihr kennt das Motto der drei ???: »Wir übernehmen jeden Fall«. Und meine Empfehlung: Übernehmt ihn mit!

Am nächsten Morgen fanden sich die Jungen bei der Bürobaracke auf dem Lagerhof ein. Kurz darauf kam ein Toyota durchs Hoftor gefahren, und der Fahrer stieg aus und fragte im Büro nach Justus Jonas. Er war ein großer, hagerer Mann mit spärlichem braunem Haar und intelligentem Gesicht. Die dunkelhaarige Frau, die auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und die sehr verstört wirkte, trat hinzu. Die kunstvoll gestaltete, hochmodische Frisur passte nicht so ganz zu ihrem eher mütterlichen Typus.

»Mr und Mrs Anderson?« Justus ging auf die Besucher zu.

»Ja …« Der Mann musste rasch umschalten, um das Bild, das er sich von dem Anrufer gemacht hatte, mit Justus’ jugendlicher Erscheinung in Einklang zu bringen. »Ja, ich bin Charles Anderson«, sagte er dann. »Und Sie … und du hast also Lucilles Tasche gefunden?«

»Ja. Ich bin Justus Jonas und das sind meine Freunde Bob Andrews und Peter Shaw.«

Auch Tante Mathilda war nun aufmerksam geworden und kam aus dem Büro. Sie hatte mittlerweile von dem vermissten Mädchen gehört und bat die Andersons zur Besprechung herein.

Die Plastiktasche lag auf dem Schreibtisch im Büro. Mr Anderson erspähte sie und nickte. »Solches Zeug trägt Lucille immer gern mit sich herum«, meinte er. Er leerte den Inhalt der Tasche aus, blickte verdutzt auf die Kosmetika und den Teddy und verzog das Gesicht. »Das hier sagt mir ja nicht gerade viel«, bemerkte er dazu.

Mrs Anderson hatte das Buch zur Hand genommen und die Leihhausquittungen entdeckt.

»Charles, das Kind hat nichts zu essen!«, rief sie. »Am Ende treibt sie sich mit Kriminellen und Pennern auf der Straße herum! Da könnte ihr ja alles Mögliche zustoßen!«

Sie gab ihrem Mann eine der Quittungen. Er warf einen raschen, ergrimmten Blick darauf. Dann stieß er energisch hervor: »Manche Leute versetzen ja mal was von ihrem Hab und Gut, ohne dass sie deshalb gleich auf der Straße liegen und es mit Pennern treiben. Du malst ja den Teufel an die Wand.«

Aus dem Wagen hatte er einen großen Umschlag aus festem braunem Papier mitgebracht. Diesen schüttete er nun aus, und dutzende von Fotos ergossen sich auf die Tischplatte.

»Das ist Lucille«, sagte Mr Anderson. Er reichte den Jungen einen Schnappschuss. »Sie ist sechzehn. Wenn ihr öfter am Strand seid, habt ihr sie vielleicht mal gesehen.«

Justus und seine Freunde sahen sich das Foto und auch all die anderen genau an. Auf allen Bildern war ein hübsches dunkelhaariges Mädchen mit braungrünen Augen zu sehen. Auf einem Foto, das wohl bei einem Schul- oder Sportfest entstanden war, trug sie eine Majoretten-Uniform und war stark geschminkt. Andere Aufnahmen zeigten sie als Laienspielerin im Kostüm einer Balletttänzerin und eines Pilgers. Es gab aber auch Fotos aus der Zeit, als Lucille erst zehn Jahre alt war, und auf wieder anderen war sie dreizehn und Siegerin beim Schönheitswettbewerb »Miss Teen Fresno«.

Als die drei ??? sich all die Bilder angeschaut hatten, war ihre Verwirrung noch größer als zuvor.

»Sie wirkt so … so verschieden, auf jedem Bild wieder anders«, stellte Peter fest. »Man bekommt gar nicht richtig mit, wie sie nun wirklich aussieht.«

»Das kommt daher, dass sie ständig mit neuen Frisuren und anderem Make-up experimentiert«, erklärte Mr Anderson. »Mal langes Haar, dann wieder kurze Stoppeln. Die Lippen mal rosa, dann wieder dunkelrot oder orange. Die einzigen Farben, die sie uns bisher erspart hat, sind vermutlich Grün und Blau. Nein, blauen Lippenstift hat sie noch nie benutzt. Und solange sie bei uns zu Hause war, hat sie sich wenigstens das Haar nicht gefärbt.« An dieser Stelle begann Mrs Anderson zu weinen.

»Wir sind in ständiger Verbindung mit den Polizeirevieren der Umgebung«, fuhr Mr Anderson fort, »aber wir bekommen immer dieselben vagen Vertröstungen zu hören, womit sie wahrscheinlich alle besorgten Eltern durchgebrannter Kinder abspeisen. Das ist bestimmt keine böse Absicht, aber wir können doch nicht länger einfach abwarten, bis Lucille vielleicht wieder auftaucht. Sie kann ja auch in Gefahr sein. Irgendwo müssen wir jetzt ansetzen. Ich möchte mir hier am Strand die Stelle ansehen, wo ihr Jungs die Tasche gefunden habt, und ich möchte die Leute von der Rettungswache ansprechen.«

Justus nickte und dann stiegen die drei ??? zu den Andersons ins Auto. Den Rest des Vormittags widmeten Lucilles Eltern dem systematischen Absuchen des Strandes, und sie sprachen mit den Strandwächtern und mit den jungen Leuten, die sich in der Sonne aalten. Gegen ein Uhr gaben die Andersons erschöpft auf.

»Niemand hat Lucille auf den Fotos erkannt«, murmelte Mr Anderson enttäuscht.

»In Wirklichkeit ist sie ja viel hübscher«, entgegnete Mrs Anderson. »Eben das macht es so schwierig.«

Mr Anderson warf seiner Frau einen bitterbösen Blick zu. »Hättest du ihr das nicht immer wieder gesagt, dann wäre das alles gar nicht passiert«, knurrte er.

Da fing Mrs Anderson wieder zu weinen an.

»Du, es tut mir leid«, lenkte ihr Mann...