Selbstvernachlässigung bei alten Menschen - Von den Phänomenen zum Pflegehandeln

von: Anna Gogl

Hogrefe AG, 2013

ISBN: 9783456953083 , 305 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 26,99 EUR

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Selbstvernachlässigung bei alten Menschen - Von den Phänomenen zum Pflegehandeln


 

1. Die Fallbeispiele – ein Werkstattbericht

Zusammenfassung
Fallbeispiele und Fallarbeit haben einen zunehmend festen Platz in der Pflegepraxis, -ausbildung, -beratung und -forschung. Das Kapitel gibt einen Einblick, wie und warum Materialien einer Pflegedokumentation zu Fallbeispielen zusammengefügt wurden und welche Kriterien die Auswahl bestimmt haben. Auf ethische Fragen in Zusammenhang mit dem Einsatz von Pflegegeschichten für dieses Buch wird besonders eingegangen.

1.1 Zum Begriff

Der Begriff «Fall» stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet «Geschehnis», wird aber beeinflusst von dem gleichbedeutenden lateinischen «casus» und dem französischen «cas». Für die Jurisprudenz, die Medizin und die Pädagogik ist das Arbeiten mit Fallbeispielen selbstverständlich und gilt als unverzichtbare Quelle zur Gewinnung von Erkenntnis oder als Material, um Erfahrungen zu vertiefen und zu reflektieren. Der Begriff «Fall» hat aber auch eine negative Ausstrahlung: Für viele Menschen hat die Vorstellung, «ein Fall zu werden», «nur ein Fall zu sein» oder «als Fall behandelt zu werden», eine erschreckende Perspektive und löst Ängste aus, dass die eigene Person missachtet und ausgebeutet wird. Es kommt auch hier darauf an, auf welcher Seite man sich befindet.

1.2 Der «Fall» in der Praxis

«Der Fallbegriff verweist schon immer auf eine außerwissenschaftliche Realität; auf einen behandlungsbedürftigen oder behandlungswürdi gen lebenspraktischen Sachverhalt. [...] Ursprünglich ist deshalb die Frage ‹Was ist der Fall?› unlösbar mit der Frage verbunden ‹Was ist zu tun?›», so Wernet (2006: 112).

Im Praxisjargon wird von einem «Fall» gesprochen, wenn die Bezugnahmen auf die üblichen Vorgehensweisen und Interventionen nicht mehr ausreichen. Dieses Ungenügen dient zum Anlass, mittels Fallbesprechungen nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Dabei wird ausgehend von der Fallbeobachtung über die Falldarstellung eine Analyse vorgenommen, um neue Lösungen zu generieren.

1.2.1 Die Funktion des Fallbeispiels im Pflegebereich

Fallbeispiele haben einen zunehmend festen Platz in Praxis, Ausbildung, Beratung und Forschung der Pflege. Sie werden eingesetzt, um:
• therapeutisch angepasste Interventionen zu entwickeln
• Pflege und Behandlung aufeinander abzustimmen
• die Zusammenarbeit mit allen am «Fall» beteiligen Berufsgruppen zu optimieren
• die Pflegepraxis zu reflektieren und damit die berufliche und persönliche Entwicklung zu fördern • am Beispiel zu lehren und zu lernen.
1.2.2 Zum Ursprung der Fallbeispiele im Buch

Die Fallbeispiele in diesem Buch sind «Praxis pur». Es handelt sich um eine Sammlung von Fallgeschichten, die sowohl die Situation des Patienten als auch das pflegerische Handeln beschreiben, daher werden vollständige Pflegeprozesse einschließlich einer Lösung präsentiert.

Die Fallgeschichten stammen aus meiner 10-jährigen Tätigkeit im ambulanten Pflegebereich, wo ich für alte Personen und ihre Familien zuständig war, die als schwer hilfsbedürftig auffielen, aber erst einmal jede Hilfe zurückgewiesen haben. Die meisten dieser älteren Klienten hatten infolge des Zusammenspiels von oft mehreren Krankheiten, von Gebrechlichkeit und sozialen Problemen unterschiedlichster Art Probleme mit Ordnung und Sauberkeit.

Von Anfang an habe ich die Pflege nach Umfang und Inhalt dokumentiert. Anhand quantitativer Daten wurde das Ausmaß der geleisteten Pflege festgehalten, während die Art und Weise der praktizierten Pflege, also die inhaltlichen Aspekte, beschreibend festgehalten wurden. Gewöhnlich dienten mir die Fahrtzeiten in den öffentlichen Verkehrsmitteln von einem zum anderen Hausbesuch dazu, die Pflege vorund nachzubereiten. Die Pflegedokumentation führte ich nach professionellen und praktikablen Gesichtspunkten. Dazu entwickelte ich eine Dokumentationsmethode, die den Kriterien «aussagekräftig» und «geringer Aufwand» entsprach, indem ich die Inhalte, speziell von Gesprächen mit Klienten und Angehörigen, nicht als Text zusammenfasste, sondern anhand von Zitaten aus dem Munde der Gesprächspartner protokollierte. Dabei konzentrierte ich mich auf Aussagen, die dem «Kern» eines Sachverhalts am nächsten kamen (s. Beispiel).

Die Zitate ergänzte ich durch Stichworte, Satzzeichen und selbst entwickelte Symbole. So verwandte ich ein gezeichnetes, stilisiertes Auge, um mich selber zu mahnen, einen bestimmten Sachverhalt nicht aus den Augen zu verlieren.

Bei der Auswahl und Interpretation des vorhandenen Datenmaterials für dieses Buch zeigte sich, dass die direkten Aussagen und Kommentare der Patienten frisch und lebendig geblieben waren und oft geradezu die Substanz eines Phänomens verkörpern.

Eine weitere Datenquelle für dieses Buch waren Unterlagen, in denen die Zusammenarbeit mit verschiedenen Mitarbeitern des Gesundheitsbetriebs dokumentiert wurde. Auch hier verwandte ich Zitate, sofern es nicht darum ging, die Ergebnisse von Sitzungen und Abmachungen zu sichern: Dann war es einfacher, Zusammenfassungen und Beschlussprotokolle anzufertigen.

1.3 Eigenes und Fremdes fließen zusammen

Lassen Sie mich auf die Bezeichnung «Praxis pur» zurückkommen. Sie bedeutet, dass das Praxisgeschehen absolut im Zentrum des Buches steht. Aber mein pflegerisches Denken, Entscheiden und Handeln wurzelt bei weitem nicht nur in der Praxis, es stützt sich sowohl auf Berufserfahrung als auch auf viele Theorien und Forschungsergebnisse, denen ich begegnet bin (s. Beispiel).

Beispiel
Eine Klientin mit einer Wahnstörung erzählte: «Ich sehe die Männer im Auto sitzen und darauf warten, dass sie bei mir einbrechen können.» Dieses kurze Zitat beschreibt den Inhalt der Sinnestäuschung und das Erleben der Klientin treffend. Es ist anschaulicher und genauer als die Formulierung «fühlt sich verfolgt» oder der abstrakte Be

Beispiel
Die Anliegen und Vorstellungen der Patienten waren mir immer sehr wichtig, aber erst die Auseinandersetzung mit den subjektiven Theorien verschaffte mir das theoretische Rückgrat, die Perspektive der Patienten bewusst und gezielt in den Pflegeprozess zu integrieren.

Im Nachhinein konnte ich die Ursprünge meines pflegerischen Handelns oft nicht mehr identifizieren bzw. nicht mehr auseinanderhalten, worauf sich mein Tun im Einzelnen gründete und woher es kam: Lag meinem Handeln eine ureigene Idee zugrunde, hatte mich ein Zeitschriftenartikel inspiriert oder ließ mich ein Austausch mit Berufskolleginnen in eine bestimmte Richtung pflegen? Ganz abgesehen von den wertvollen Anregungen und Empfehlungen, die ich von Patienten und Angehörigen erhalten habe. Außerdem reflektierte ich mein pflegerisches Denken und Tun regelmäßig in meiner Supervision, was meine Positionen laufend infrage stellte und veränderte. In den Fallbeispielen ist Vieles von Vielen zusammengeflossen.

1.4 Ethische Bedenken

Die in diesem Buch beschriebenen Patienten sind inzwischen alle verstorben. Beim Vorbereiten der Fallbeispiele habe ich mir jedoch oft überlegt, was wohl Herr A., Frau B. oder andere Patienten dazu sagen würden und ob die Veröffentlichung ihrer Geschichten auch posthum als Vertrauensbruch betrachtet werden kann. Bei einigen meiner ehemaligen Klienten kann ich mir vorstellen, dass sie zugestimmt hätten, speziell Herr A. und Frau K. Beide hätten Verständnis dafür gehabt, dass Pflegende an ihrem Beispiel lernen. Bei Frau Zweier, der großen Neinsagerin und Verheimlicherin, traue ich mir keine Mutmaßung zu. Von der absoluten Verweigerung bis hin zur Zustimmung in dem Bewusstsein, wesentliche Informationen zurückgehalten zu haben, kann ich mir bei dieser Klientin jede Entscheidung vorstellen. Während der Niederschrift der Fallbeispiele kam es mir immer wieder einmal vor, als würden mir die Beschriebenen über die Schulter schauen. Das führte trotz aller wünschbaren Genauigkeit dazu, sehr schambesetzte Geschehnisse und Gegebenheiten unerwähnt zu lassen. Respekt und Schonung gelten in Pflegebeziehungen auch über den Tod hinaus.

Es ist mir ein außerordentliches Anliegen, alle ehemals Beteiligten – Patienten und Patientinnen, ihre Angehörigen und Nachbarn sowie Professionelle – möglichst zu schützen. Selbstverständlich sind alle Namen und Namensabkürzungen, die in den Texten aufscheinen, Pseudonyme. Alle Daten, die Rückschlüsse auf die Identität von Klienten und Pflegenden ermöglicht hätten, wurden anonymisiert.

Zwei typische Fallbeispiele, bei denen die Lebensumstände und die Gesundheitssituation der Betroffenen so einmalig und unverwechselbar waren, dass ein Wiedererkennen nicht auszuschließen war, wurden nicht ins Buch aufgenommen.

1.5 Von der Praxis für die Praxis

Natürlich hätte das Konzept der Selbstvernachlässigung älterer Menschen auch anders als durch Fallbeispiele beschrieben werden können. Mehrere pflegespezifische Überlegungen bestärkten mich jedoch darin, das Thema anhand von Fallgeschichten zu erschließen:
1. Durch Fallbeispiele lässt sich die Alltagsrealität der Pflege und der Pflegenden treffend abbilden. Ein «Fall» ist genau das, womit Pflegende im Berufsalltag dauernd zu tun haben. Auch wenn nicht explizit davon gesprochen wird, wohnt jedem Pflegeprozess, jeder Pflegesituation stets ein «Fall» inne. Fallgeschichten erlauben, sowohl den Zustand des…