Teatime mit Tante Alwine - Roman

von: Ellen Jacobi

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838753850 , 429 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Teatime mit Tante Alwine - Roman


 

1.


Dem Himmel sei Dank!

Oda Wilhelmi braucht kein neues Herz.

Eine abschließende Untersuchung beim Kardiologen hat ergeben, dass sie nicht an dem unheilbaren Herzfehler leidet, der ihre Mutter viel zu früh das Leben gekostet hat. Lediglich einen automatischen Dings – wie hieß das noch? – Kardioverterdefi irgendwas – muss sie sich in drei Tagen einsetzen lassen. Ein schmerzfreier, kleiner Routineeingriff, versichern die Ärzte. Selbst mit ihren zweiundsiebzig Jahren.

Damit und mit einem Computerchip über dem Schlüsselbein kann sie leben. Er wird ihr häufig stolperndes Herz im Takt halten und ihm einen Stromschock versetzen, sollte es mal ganz vergessen zu schlagen. Angenehm klingt das nicht, aber besser, als tot umzufallen.

Etwa in die Teigschüssel vor ihr, in der sie Hefeteig für Brioches zusammenrührt, na ja, eher zusammenklumpt. Sie hat seit einer Ewigkeit nicht mehr gebacken. Aber das lässt sich lernen. Sie wird überhaupt eine Menge Dinge lernen müssen, um »Ferdinand Wilhelmis Dampffbäckerei gegründet 1919« in Köln-Ehrenfeld wieder zu eröffnen. Natürlich unter anderem Namen. Als »Café Ährensache« will sie die erste Bäckerei ihres Vaters nach mehr als fünfzig Jahren wiederbeleben. Mit Dorkas und für Dorkas. Ein seliges Lächeln umschlängelt ihren Mund.

Es wird die zweite oder dritte Neueröffnung der alten Konditorei »Wilhelmi« nach 1945 werden, aber die erste, an der sie selbst beteiligt ist. Zeitweise war das Ladenlokal mal Bürgerbüro für Obdachlose oder Musikkneipe. Na ja, eher Kaschemme. Oda hat sich nie groß um ihr Erbe gekümmert. Stets Jahre hat sie das Ladenlokal und ehemalige Wohnhaus der Eltern in Köln-Ehrenfeld nur vermietet, nie das Geschäft selbst betrieben oder das Haus bewohnt.

Bald tut sie beides.

»Zum Sterben habe ich momentan wirklich keine Zeit«, teilt sie einem jubilierenden Rotkehlchen in der Birke vor dem Backstubenfenster mit. Oda schlägt die Hand vor den Mund. Jemine, wie albern sie klingt!

Aber vielleicht ist das normal, wenn man Wochen zwischen Bangen und Hoffen und voll endloser Untersuchungen hinter sich hat und dem Tod unverhofft von der Schüppe hüpfen darf. Jetzt kann ihr Leben neu beginnen. Ganz neu. Angeschlagen oder nicht. Ihr Herz ist Optimist geblieben, und das ist gut so, denn sie hat noch viel vor und muss entscheidende Dinge regeln.

Etwa Erbfragen. Die vor allem.

Ihr Lächeln verbreitert sich.

Nie zuvor in ihrem Leben hat Oda über ein Testament nachgedacht. Schon gar nicht mit einem Lächeln auf den Lippen. Es gab ja niemanden, dem sie etwas hätte vererben können. Wechselnde Liebhaber und ihre grantige Schwester Alwine, die ja, aber keinen Ehemann, keine Kinder. Das ist nun anders. Ganz fabelhaft anders! Dank Dorkas.

In Odas Augen stiehlt sich ein Leuchten des Glücks. Wer hätte gedacht, dass sie in ihrem Alter noch einmal Gelegenheit bekommen würde zu lieben. Wirklich und wahrhaftig zu lieben. Fast wie eine Mutter. Was sie nie gewesen ist. Aber fühlen kann sie wie eine. Oh ja, das kann sie, basta. Niemand wird es ihr verbieten. Niemand. Diesmal nicht.

Fühlbar ermuntert streicht sie ihre Schürze glatt. Der Stoff ist neu und steif, überhaupt ist die Schürze ein ungewohntes Kleidungsstück für sie. Genau wie die Bäckerclogs an ihren Füßen. Verzückt betrachtet sie das klobige Schuhwerk. Als ehemalige Schauspielerin fühlt sie sich gern mit Leib und Seele in ihre neue Rolle als künftige Kaffeehausbesitzerin ein. Es muss die Rolle ihres Lebens werden!

Sie will Dorkas Mendel etwas vererben, auf das sie stolz sein kann. Etwas, mit dem sie dem Mädchen eine Zukunft sichern kann. »Dorkas«, murmelt sie so selig wie jemand, der frisch verliebt ist und sein Glück nicht fassen kann.

Wäre ihr Herz nicht aus dem Takt geraten und sie nicht hierher zurückgezogen, hätte sie Dorkas nie kennengelernt. Ein schrecklicher Gedanke. Die junge Frau ist das größte Geschenk, das sie auf ihren letzten Lebensmetern erhalten konnte. Ein Geschenk, das sie sich verdienen will und bei dem der Himmel, jedenfalls eine höhere Instanz, die Hand im Spiel haben muss. Im Alter, findet Oda, darf sie sich diese kindliche Sichtweise wieder gönnen. Sie tröstet ungemein, und ohne den Glauben daran, dass alles im Leben aus gutem Grund geschieht, hätte sie ihr eigenes nicht bewältigt.

Ihr Blick fällt wieder in die Schüssel – an dem Briochesteig ist sie gründlich gescheitert. Sie legt den Rührlöffel beiseite und greift mit beiden Händen hinein. Vielleicht hilft beherztes Kneten.

Mindestens fünf beschwerdefreie Jahre kann ihr dieses Defi-Dings bescheren, haben die Ärzte versprochen. Wahrscheinlich sogar mehr, denn ihre anderen Organe sind tadellos gesund. Sie wird die geschenkte Zeit nutzen. Jeder Morgen ist der Beginn eines neuen Lebens, heißt es. Wenn man wie sie eine zweite Chance bekommt, zu leben und auch noch zu lieben, ist das doppelt wahr!

Ihrer Mutter Friederike war das leider nicht vergönnt. Eben vierzig war sie, als ihr Herz einfach ausgesetzt hat.

»Mumpitz«, meldet sich aus einer ihrer Hirnkammern unwirsch ihre Schwester Alwine zu Wort. Muss eine Rumpelkammer sein. »Heinrich Gimmler hat sie umgebracht, genau wie unseren Vater.«

Oda seufzt. Mit zweiundsiebzig Jahren hat man leider auch ein altes Leben. Dazu gehört Alwine, ihre herrische, unverwüstliche, zwölf Jahre ältere Schwester. Und – Oda verzieht voll Abscheu den Mund – Heinrich Gimmler.

Fahrig streut sie mehr Mehl über den Teig, formt ihn zur Kugel und gibt ihr einen zornigen Klaps.

Der Klaps gilt Gimmler.

An den will sie nicht denken. Am liebsten nie mehr. Gewisse Geschichten, die keinen was angehen, wird sie einfach mit ins Grab nehmen. Und gewisse Geheimnisse, für die sie lange genug gebüßt hat.

Oda schürzt die Lippen in stummem Selbsttadel und angelt nach einem Küchentuch, um die Hefekugel abzudecken. »Immer schön ehrlich bleiben, Schätzchen«, ermahnt sie sich streng, »gebüßt ist übertrieben.«

Jetzt aber Schluss mit der Vergangenheit, sie hat genug mit Ferdinands Brioches zu tun. Um halb zehn kommt Alwine, um davon zu kosten und zu entscheiden, ob sie dem »Café Ährensache« einen Startkredit gewähren wird oder nicht.

Flink steckt Oda die Tuchzipfel unter der Schüssel fest und schiebt sie unters Fenster, durch das die warme Septembersonne schielt. Sie zieht eine Backuhr auf. Ob zehn Minuten reichen, damit die Kugel aufgeht?

»Zwanzig, du hibbeliger Wibbelsterz, und das zweimal«, flüstert es in kölscher Tonart in ihrem rechten Ohr. Oda zuckt zusammen. Sie widersteht der Versuchung herumzuwirbeln. Ihr Vater, Konditormeister Ferdinand Wilhelmi, kann unmöglich hinter ihr stehen. Gleichgültig, wie deutlich sie ihn zu hören glaubt, seit sie vor sechs Monaten aus einem Dorf bei Hamburg in ihr Kölner Geburtshaus zurückgezogen ist. Ferdinand ist wie ihre Mutter Friederike seit bald siebzig Jahren tot.

Muss an ihren hoch dosierten Herzmedikamenten liegen, dass sie seine Stimme hört, beruhigt sie sich. Die Tabletten sorgen anscheinend nicht nur nachts für »lebhaft erhöhte Traumtätigkeit«. Na, sollen sie nur. Ihren Vater hört sie gern. Ob tot oder nicht.

Ferdinand lebt in Odas Erinnerungen als Frohnatur im Bäckerkittel und mit Baskenmütze. Wenn er gehustet hat, stäubte das Mehl vom Kittel auf. Als Kind hat sie geglaubt, er schneit. Und geduftet hat er! Nach Rosinen, Zimt und Vanille. Nicht nur darum hat sie ihn so leidenschaftlich gern umarmt. In Gegenwart ihres Vaters hatte man das Gefühl, einfach zu leben sei schon etwas Großartiges. Und das ist es auch.

In ihrem Herzen hat Ferdinand auf immer einen Ehrenplatz – samt seinem grünsamtenen Ohrensessel. Schon deshalb hätte sie es niemals austauschen lassen wie einen defekten Automotor. Mal davon abgesehen, dass sie in ihrem Alter kaum Chancen auf ein Spenderorgan hätte. Nur gut, dass bald dieser Defi-Dingsda ihr Leben verlängern wird.

Oda öffnet einen Fensterflügel und zerbröselt altes Brot auf dem Fensterbrett. Das Rotkehlchen legt den Kopf schief, ohne seinen perlenden Reviergesang zu unterbrechen. Ihr Sängerknabe scheint seine Kunst ihrem Brot vorzuziehen. Oder er wartet auf die Brioches. Egal, Hauptsache, er ist da.

Oda schließt lächelnd das Fenster. In jungen Jahren war sie so damit beschäftigt, sich die Aufmerksamkeit eines Mannes, Anerkennung, Beifall, eine glanzvolle Zukunft oder auch nur ein bestimmtes Kleid zu wünschen, dass sie häufig vergaß, sich die Welt anzuschauen. Sie nahm keine herrlichen Gebäude, keine Bäume und Rotkehlchen wahr. Oder Kinder. Die schon gar nicht. Heute tut sie das. Keine Frage, ihr Leben hat ungemein an Farbe und Qualität gewonnen, seit sie dem Tod ins Gesicht schauen musste.

Ihr alter Freund, der so rührige wie rührend besorgte Dr. Hilkmar Seelentag, sieht das nach wie vor anders. Beim Auftreten der ersten Symptome ihrer Herzschwäche hat er sofort für ein Spenderorgan plädiert. Sogar eine Scheinehe hat er ihr vorgeschlagen, weil ältere Alleinstehende ohne Partner und Familie nur in sehr seltenen Ausnahmefällen Chancen auf eine Transplantation haben. Sie weisen eine zu hohe Sterblichkeitsrate nach dem Eingriff auf. Ein neues Herz macht eben nicht weniger einsam. Oder jünger.

»Ach, Hilkmar, du gibst eben nie auf«, murmelt Oda.

Der alte Hagestolz ist der Familie Wilhelmi seit einer Ewigkeit verbunden. Ein unverbesserlicher Lebensretter und ritterlicher Mann vom Typ des ewigen Minnesängers.

Minnesänger? Jetzt wird sie aber wirklich albern! Der Heiratsantrag war doch nicht ernst gemeint. Ausgeschlossen. Jedenfalls nicht in romantischer Hinsicht. Schließlich hatten sie zuvor...