Der Tanz der Möwe - Commissario Montalbano erblickt die Wahrheit am Horizont. Roman

von: Andrea Camilleri

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838753249 , 369 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Tanz der Möwe - Commissario Montalbano erblickt die Wahrheit am Horizont. Roman


 

Eins

Gegen halb sechs Uhr früh hielt er es nicht länger aus, mit offenen Augen im Bett zu liegen und die Decke anzustarren.

Das war wohl eine Alterserscheinung. Normalerweise legte er sich nach Mitternacht hin und las ein halbes Stündchen. Sobald ihm die Augen zufielen, klappte er das Buch zu und knipste die Nachttischlampe aus. Dann rollte er sich auf die rechte Seite, die Wange in die auf dem Kissen liegende Hand geschmiegt, schloss die Augen und schlummerte auf der Stelle ein.

Zum Glück schlief er oft bis zum Morgen durch. Manchmal aber, so wie heute, wachte er nach ein paar Stunden ohne jeden Grund auf, und dann war nichts mehr zu machen, es gelang ihm einfach nicht mehr einzuschlafen.

Einmal war er in seiner Verzweiflung aufgestanden und hatte eine halbe Flasche Whisky in sich hineingekippt in der Hoffnung, dass ihm die Augen zufallen würden. Mit dem Ergebnis, dass er am nächsten Morgen, als er ins Kommissariat kam, ordentlich einen sitzen hatte.

Er stand auf und öffnete die Verandatür.

Es versprach ein herrlicher Tag zu werden mit klaren, kräftigen Farben wie ein frisch gemaltes Bild.

Die Brandung toste allerdings stärker als gewöhnlich.

Als er hinaustrat, überkam ihn ein leichtes Frösteln. Es war Mitte November. Oft herrschte um diese Zeit des Jahres schon tiefer Winter, aber heute war es fast wie im September.

Im Laufe des Vormittags würde es sich aber wohl eintrüben. Rechts, vom Monte Russello her, zogen schon die ersten dunklen Wolken auf.

In der Küche kochte er sich einen Kaffee, und nach der ersten Tasse ging er ins Bad. Frisch geduscht und angekleidet setzte er sich mit der zweiten Tasse auf die Veranda.

»Sie sind aber früh dran heute Morgen, Commissario!«

Montalbano hob die Hand zum Gruß.

Es war Signor Puccio, der sein Boot ins Wasser schob, hineinstieg und aufs offene Meer hinausruderte.

Wie viele Jahre beobachtete Montalbano ihn nun schon bei seinen immer gleichen Bewegungen?

Dann schweifte sein Blick zu einer Möwe am Himmel.

Heutzutage sah man nur noch selten Möwen am Meer. Es war ihm ein Rätsel, warum sie in die Stadt umgesiedelt waren. Aber auch in Montelusa, zehn Kilometer von der Küste entfernt, gab es Hunderte von ihnen. Als wären sie des Meeres überdrüssig und darauf bedacht, den Wellen nur nicht zu nahe zu kommen. Was veranlasste sie, sich ihr Futter im Abfall der Städte zu suchen, statt sich frischen Fisch aus dem Wasser zu holen? Warum waren sie so tief gesunken, dass sie sich mit den Ratten um einen verfaulten Fischkopf zankten? Taten sie es aus freien Stücken, oder war die Ordnung der Natur aus den Fugen geraten?

Auf einmal legte die Möwe die Flügel an und glitt im Sturzflug auf den Strand hinunter. Was hatte sie entdeckt? Ihr Schnabel berührte fast den Boden, doch dann erhob sie sich nicht mit einer Beute wieder in die Luft, sondern sackte zu einem reglosen Häufchen Federn zusammen, die von der leichten Morgenbrise sanft bewegt wurden. Vielleicht hat jemand sie abgeschossen, überlegte der Commissario, obwohl er gar keinen Schuss gehört hatte. Aber wer kam auf die abartige Idee, eine Möwe abzuschießen? Der Vogel, dreißig Schritte von der Veranda entfernt, war mit Sicherheit tot. Doch dann, während Montalbano ihn so beobachtete, durchfuhr den Vogel plötzlich ein Zittern, und er rappelte sich hoch. Dann neigte er sich zur Seite, spreizte den Flügel, der den Sand berührte, und begann, sich um die eigene Achse zu drehen. Dabei beschrieb die Flügelspitze einen Kreis, und der Schnabel wies in einer unnatürlichen Verrenkung des Halses zum Himmel. Was war das, ein Tanz? Der Vogel tanzte und sang. Nein, es war kein Gesang, das Geräusch, das aus seiner Kehle drang, war ein verzweifeltes Krächzen, fast ein Hilferuf. Und während er sich immer weiter um sich selbst drehte, bog er den Kopf unnatürlich weit zurück und ruckte mit dem Schnabel. Es sah aus wie ein Arm mit einer Hand, die vergeblich etwas hochzuheben versuchte.

Montalbano lief zum Strand und näherte sich der Möwe bis auf einen Schritt. Ohne jedes Anzeichen, dass sie ihn wahrgenommen hatte, drehte sie sich immer unsicherer weiter, bis sie ins Torkeln geriet und schließlich den Halt verlor, weil ihr Flügel einknickte. Mit einem schrillen, fast menschlichen Schrei sank sie zur Seite und hauchte ihr Leben aus.

Sie hat ihren Todestanz vollführt, dachte der Commissario, erschüttert von dem Schauspiel, dessen Zeuge er geworden war.

Um den Vogel nicht den Hunden und Ameisen zum Fraß zu überlassen, hob er ihn an den Flügeln auf und trug ihn zur Veranda. Aus der Küche holte er einen Plastiksack und steckte den Kadaver hinein, dazu zwei schwere Steine, die zur Verschönerung im Haus herumlagen. Dann zog er Schuhe, Hose und Hemd aus, ging in der Unterhose ans Meer und watete fast bis zum Hals ins Wasser hinein. Er ließ den Plastiksack über seinem Kopf kreisen und schleuderte ihn so weit wie möglich aufs offene Meer hinaus.

Als er wieder ins Haus trat, war er ganz starr vor Kälte. Nach dem Abtrocknen machte er sich noch eine Kanne Espresso und trank den Kaffee dampfend heiß.

Auf der Fahrt zum Flughafen Palermo-Punta Raisi kehrten seine Gedanken zu der Möwe zurück, die er hatte tanzen und sterben sehen. Aus irgendeinem Grund hatte er immer geglaubt, Vögel seien unsterblich, und ein toter Vogel hatte ihn in Staunen versetzt wie etwas, das eigentlich gar nicht sein konnte. Er war sich jetzt sicher, dass die Möwe, die er hatte sterben sehen, nicht abgeschossen worden war. Fast sicher, denn vielleicht hatte eine einzige Schrotkugel ausgereicht, um sie zu töten, ohne dass sie auch nur einen Tropfen Blut verlor. Ob alle sterbenden Möwen einen so herzzerreißenden Tanz aufführten? Die Szene ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Die elektronische Anzeigetafel am Flughafen empfing ihn mit der grandiosen Nachricht, dass die Maschine, auf die er wartete, mehr als eine Stunde Verspätung hatte.

Was hatte er denn erwartet? Als ob in Italien jemals irgendetwas planmäßig ankam oder abfuhr.

Die Züge hatten Verspätung, die Flugzeuge auch, und damit die Fähren den Anker lichteten, musste schon ein kleines Wunder geschehen. Von der Post ganz zu schweigen. Die Busse blieben im Verkehr stecken, und die öffentlichen Bauprojekte verzögerten sich grundsätzlich um fünf bis zehn Jahre. Es vergingen Jahre, bevor ein Gesetz endlich verabschiedet wurde, auch wenn es noch so unbedeutend war, und sogar die Fernsehsendungen fingen in der Regel mit einer halben Stunde Verspätung an …

Wenn Montalbano über diese Dinge nachdachte, geriet sein Blut in Wallung. Aber er wollte Livia nicht schlechtgelaunt empfangen. Er musste sich ablenken und sich die Wartezeit verkürzen.

Die Fahrt so früh am Morgen hatte seinen Appetit angeregt. Merkwürdig, denn er frühstückte sonst nie. Er ging zur Bar, wo sich eine Schlange gebildet hatte wie auf dem Postamt am Tag der Rentenauszahlung. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er endlich an der Reihe war.

»Einen Espresso und ein Cornetto.«

»Cornetti haben wir nicht.«

»Sind sie schon aus?«

»Nein. Die Lieferung hat sich verspätet, die Hörnchen kommen in einer halben Stunde.«

Nicht einmal mehr auf die Cornetti konnte man sich verlassen!

Missmutig trank er seinen Espresso, kaufte sich eine Zeitung, setzte sich und fing an zu lesen. Nur Geschwafel und leeres Geschwätz.

Die Regierung schwafelte, die Opposition schwafelte, die Kirche schwafelte, der Unternehmerverband schwafelte, die Gewerkschaften schwafelten. Leeres Geschwätz über die Trennung eines VIP-Paares, über einen Fotografen, der fotografiert hatte, was er nicht fotografieren durfte. Leeres Geschwätz über den reichsten und mächtigsten Mann des Landes, den seine Gattin in einem offenen Brief wegen gewisser Bemerkungen einer anderen Frau gegenüber kritisiert hatte. Leeres Geschwätz über die Maurer, die wie reife Birnen vom Baugerüst fielen, über die Bootsflüchtlinge, die im Meer ertranken, über Rentner, die ein so armseliges Leben führten, dass sie mit Flicken am Hintern herumlaufen mussten, über Kindesmissbrauch …

Es wurde immer und überall über jedes Problem geredet, aber es war nichts als Geschwafel, ohne dass etwas Konkretes dabei herauskam oder irgendeine Maßnahme ergriffen wurde …

Montalbano beschloss augenblicklich, dass Artikel eins der Verfassung folgendermaßen geändert werden musste: »Italien ist eine auf illegalen Drogenhandel, systematische Verspätungen und Geschwafel gegründete Republik.«

Verdrossen warf er die Zeitung in einen Abfalleimer und verließ das Flughafengebäude. Er zündete sich eine Zigarette an und beobachtete die Möwen, die in Ufernähe ihre Kreise zogen. Sofort fiel ihm wieder die Möwe ein, die er hatte tanzen und sterben sehen.

Da ihm bis zur Ankunft des Flugzeugs noch eine halbe Stunde Zeit blieb, ging er zu Fuß den Weg zurück, den er mit dem Auto hergefahren war. Er kam fast bis zu den Klippen. Die würzige Meeresbrise erfrischte ihn mit ihrem Geruch nach Salz und Algen, und er sah den Möwen zu, die einander verfolgten.

Als er ins Flughafengebäude zurückkehrte, war Livia soeben gelandet.

Freudestrahlend kam sie auf ihn zu. Gut sah sie aus. Sie umarmten sich innig und küssten sich. Sie hatten sich drei Monate nicht gesehen.

»Gehen wir?«

»Ich brauche noch meinen Koffer.«

Das Gepäck, wie konnte es anders sein, wurde den Reisenden mit einstündiger Verspätung ausgehändigt, unter lautstarkem Geschrei, Flüchen und Protesten. Dabei konnten sie von Glück reden, dass ihre Koffer nicht in Bombay oder Tansania gelandet waren.

Im Auto nach Vigàta sagte Livia:

»Du weißt, dass ich das Hotel in Ragusa schon...