Dunkler Grund - Historischer Kriminalroman

von: Anne Perry

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641127312

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Dunkler Grund - Historischer Kriminalroman


 

Zweites Kapitel


»Komm, Mutter.« Alastair nahm ihren Arm und führte sie durch das Gedränge zum Zug, der bereits, gewaltig und schimmernd, eingefahren war; die Türen mit den Messinggriffen standen offen, die polierten Seitenwände der Waggons schienen noch in die Höhe zu wachsen, als sie sich ihnen näherten. Die Lokomotive spuckte ein Rauchwölkchen aus. »Keine Sorge, wir haben noch eine halbe Stunde Zeit«, sagte Alastair. »Wo ist Oonagh?«

»Ich glaube, sie erkundigt sich, ob er pünktlich abfährt«, antwortete Deirdra und rückte etwas näher an ihn heran, als ein Gepäckträger einen Wagen mit fünf Koffern vorbeischob.

»’n Abend, Miss.« Er tippte sich an die Mütze. »’n Abend, Sir. Ma’am.«

»Guten Abend«, erwiderten sie zerstreut. Sie erwarteten derlei Höflichkeiten und erlebten sie doch als Störung ihres Beisammenseins. Hector hatte den Mantelkragen hochgeschlagen, als wäre ihm kalt; er sah Mary an, obwohl sie sich halb von ihm abgewandt hatte. Eilish ging neugierig auf die offene Waggontür zu. Baird bewachte Marys drei Koffer, und Quinlan trat von einem Fuß auf den anderen, als könne er es nicht erwarten, die Angelegenheit endlich hinter sich zu bringen.

Oonagh stand einen Augenblick lang unentschlossen herum, sah erst Alastair und dann ihre Mutter an. Und dann, als hätte sie einen Entschluß gefaßt, nahm sie Marys Arm und führte sie den Bahnstein entlang, bis sie den Wagen erreicht hatte, in dem zwei Plätze für Mary reserviert waren. Hester folgte ein paar Schritte dahinter. Mary würde nur eine Woche fort sein, und doch mußte eine Fremde, zumal eine Angestellte, in einem solchen Moment darauf achten, nicht allzu präsent zu sein. Noch hatte ihr Dienst nicht begonnen.

Innen sah der Wagen völlig anders aus als der Wagen zweiter Klasse, in dem Hester angereist war. Es war kein großer, offener Fahrgastraum mit harten Sitzen und steifen Rückenlehnen, sondern eine Reihe von separaten Abteilen, in denen sich zwei gepolsterte Sitzbänke gegenüberstanden. Auf jeder von ihnen hätten drei Leute bequem nebeneinander Platz gehabt, und – ein wundervoller Gedanke – allein konnte man sich darauf behaglich ausstrecken und, die Füße unter dem Rock versteckt, ein gemütliches Schläfchen halten. Man konnte sich vor Störungen sicher fühlen, denn ein einziger Blick verriet, daß das ganze Abteil für Mrs. Mary Farraline und Begleitung reserviert war. Hester war bereits blendender Laune. Es würde ganz anders sein als während der langen, anstrengenden Anreise, auf der sie immer nur in kurzen, ständig gestörten Schlummer gefallen war.

Mary betrachtete diesen Komfort als selbstverständlich. Wahrscheinlich war sie schon öfter in Abteilen der ersten Klasse gereist, und sie hatten ihr nichts Interessantes mehr zu bieten.

»Die Koffer sind im Gepäckwagen«, sagte Baird. Er stand in der Tür und blickte Mary so direkt ins Gesicht, wie er es sonst bei niemandem tat. »In London wird man sie für dich ausladen. Bis dahin kannst du sie vergessen.« Er legte die kleine Reisetasche mit Waschzeug und dem Arzneiköfferchen ins Gepäcknetz über ihrem Kopf.

Alastair sah ihm mürrisch zu, sagte aber nichts, als wäre längst alles gesagt und habe ohnehin nichts bewirkt, damals nicht und heute nicht. Seine Sorge galt seiner Mutter. Er wirkte beunruhigt und ungehalten.

»Es wird dir an nichts fehlen, Mutter. Ich hoffe, es wird eine ereignislose Reise.« Er sah Hester dabei nicht an, aber es gab keinen Zweifel, was er meinte. Er beugte sich hinunter, als wollte er Mary auf die Wange küssen, dann überlege er es sich offensichtlich anders und richtete sich wieder auf. »Griselda wird dich natürlich abholen.«

»Und wir holen dich ab, wenn du zurückkommst, Mutter«, fügte Eilish mit flüchtigem Lächeln hinzu.

»Wohl kaum, meine Liebe.« Quinlans Miene ließ keinen Zweifel an seinen Gefühlen. »Morgens um halb neun! Wann wärst du jemals so früh aufgestanden?«

»Das schaff’ ich schon... wenn mich jemand weckt«, verteidigte sich Eilish.

Baird öffnete den Mund und schloß ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

Oonagh runzelte die Stirn. »Natürlich schaffst du’s, wenn du es willst.« Sie wandte sich wieder an Mary. »Also, Mutter, hast du alles, was du brauchst? Gibt es hier keine Fußwärmer?« Sie sah hinunter zum Fußboden, und Hester folgte ihr mit dem Blick. Fußwärmer. Was für ein beglückender Gedanke. Auf der Herfahrt waren ihre Füße so kalt geworden, daß sie sie kaum noch gespürt hatte.

»Laßt euch welche bringen.« Quinlan hob die Augenbrauen. »Es muß ja welche geben!«

»Gibt es auch«, antwortete Oonagh, bückte sich und zog eine große, steinerne Flasche unter dem Sitz hervor. Sie war mit heißem Wasser und einer Chemikalie gefüllt, die bei heftigem Schütteln etwas von der Wärme wiederherstellen würde, die bis zum Morgen verlorenging. »Siehst du, Mutter, sie ist schön warm. Leg deine Füße darauf. Baird, wo ist die Reisedecke?«

Gehorsam reichte er sie ihr, sie nahm sie und half Mary, sich in die Decke zu wickeln. Eine zweite Decke legte sie auf dem anderen Sitz zusammen. Niemand beachtete Hester, von der man anscheinend nicht erwartete, daß sie mit ihrem Dienst begann, bevor sie tatsächlich abgefahren waren. Sie hob ihre Reisetasche ins Gepäcknetz, setzte sich auf die Sitzbank gegenüber und wartete.

Nach und nach waren alle Abschiedsformeln aufgesagt, und sie zogen sich auf den Gang zurück, nur Oonagh blieb noch.

»Auf Wiedersehen, Mutter«, sagte sie leise. »Ich werde mich um alles kümmern während deiner Abwesenheit und alles so machen, wie du es tun würdest.«

»Ach, mein Schatz!« Mary lächelte belustigt. »Du kümmerst dich doch schon die ganze Zeit um den ganzen Haushalt. Ich kann dir versichern, daß ich noch nie Grund zur Klage hatte!«

Oonagh küßte sie sanft, dann wandte sie sich zu Hester um; ihr Blick war sehr direkt und sehr klar. »Auf Wiedersehen, Miss Latterly.« Gleich darauf war sie verschwunden.

Ein ironisches Lächeln lag auf Marys Gesicht, als amüsierten sie ihre letzten Worte.

»Machen Sie sich Sorgen?« fragte Hester schnell. Vielleicht konnte sie die alte Dame ein wenig beruhigen. Mary Farraline war nicht nur ihre Patientin, sie war auch ein Mensch, zu dem sie eine natürliche Zuneigung gefaßt hatte.

Mary hob kaum merklich die Schultern. »Ach nein, eigentlich nicht. Ich wüßte keinen vernünftigen Grund. Ist Ihnen auch warm genug, meine Liebe? Bitte, nehmen Sie doch die andere Decke.« Sie deutete darauf. »Die hat Oonagh für Sie mitgebracht. Wieso haben sie uns nicht beiden einen Fußwärmer gegeben?« Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. »Aber wir werden auch mit einem zurechtkommen. Setzen Sie sich doch gegenüber, und stellen Sie Ihre Füße auf die andere Hälfte. Keine Widerrede! Ich kann mich doch nicht wohl fühlen, wenn ich weiß, daß Sie frieren. Ich bin schon oft mit dem Zug gefahren. Ich kenne die Unannehmlichkeiten.«

»Sind Sie viel gereist?« fragte Hester, während sie sich so hinsetzte, wie Mary es angeordnet hatte, und die Füße, die schon ganz kalt waren, auf den segensreichen Fußwärmer stellte.

Draußen schlugen die Türen, der Gepäckträger rief etwas, aber seine Stimme ging in einem Dampfzischen unter. Mit Klappern und Ruckeln setzte der Zug sich in Bewegung, wurde allmählich schneller, und dann rollten sie aus der Bahnhofshalle hinaus in die Dunkelheit der Landschaft.

»Früher«, antwortete Mary mit sehnsüchtigem Blick auf Hesters Frage. »Ich war überall: in London, Paris, Brüssel, Rom. Sogar in Neapel und Venedig. Italien ist wunderschön.« Sie lächelte, die Erinnerung hellte ihr Gesicht auf. »Jeder Mensch sollte einmal im Leben in Italien gewesen sein. Am schönsten ist es, wenn man so um die Dreißig ist. Dann ist man alt genug, um zu spüren, wie wunderbar dieses Land ist, wie sehr seine Vergangenheit bis in die Gegenwart wirkt, und man ist noch jung genug, um das Leben zu genießen.« Ein heftiger Ruck ging durch den Zug, dann setzte er die Fahrt mit höherer Geschwindigkeit fort. »Ich glaube, es ist schade, wenn man die schönen Dinge seines Lebens als zu junger Mensch erlebt, man hat es viel zu eilig, um sie wirklich verstehen zu können. Es ist schlimm, wenn man erst viel später merkt, was man Wunderbares erlebt hat.«

Hester dachte so gründlich über diesen Gedanken nach, daß sie völlig vergaß zu antworten.

»Aber Sie haben auch weite Reisen gemacht«, sagte Mary, den Blick ihrer hellen Augen auf Hester gerichtet. »Und viel interessantere noch als ich – jedenfalls größtenteils. Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, würde ich liebend gern etwas über Ihre Erlebnisse dort unten hören. Ich muß gestehen, daß mir die ungehörigsten Fragen durch den Kopf gehen. Es ist sicher nicht schicklich, so viele Fragen zu stellen, aber in meinem Alter kümmert es einen nicht mehr so sehr, was schicklich ist.«

Oft hatte man Hester unbedachte Fragen gestellt, die auf falschen Vorstellungen beruhten. Die meisten Leute wußten nur das, was sie in der Zeitung gelesen hatten. Die Fähigkeit der Presse, kritische Betrachtungen anzustellen, mochte zwar gestiegen sein, trotzdem war nur sehr wenig über das wirkliche Leiden, das wirkliche Entsetzen in den Zeitungen zu lesen.

»Ruft es schreckliche Erinnerungen in Ihnen wach?« fragte Mary rasch und mit lebhafter Anteilnahme.

»Nein, gar nicht«, antwortete Hester, mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung. Sie hatte viele, zum Teil drastische Erinnerungen, aber nur selten hatte sie das...