Eine Spur von Verrat - Historischer Kriminalroman

von: Anne Perry

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641128487

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Eine Spur von Verrat - Historischer Kriminalroman


 

ERSTES KAPITEL


Heiter Latterly stieg aus dem Hansom. Der jeweils für eine Fahrt mietbare Zweisitzer war eine nagelneue, ausgesprochen praktische Erfindung, durch die das Reisen wesentlich erschwinglicher wurde als mit den alten, riesigen Kutschen, die man für den ganzen Tag bezahlen mußte. Sie fischte das entsprechende Geldstück aus ihrer Börse, gab es dem Fahrer und marschierte dann mit flottem Schritt am Brunswick Place vorbei in Richtung Regent’s Park, wo sich voll aufgeblühte Narzissen in goldenen Streifen gegen den dunklen Erdboden abhoben. So sollte es auch sein. Man schrieb den einundzwanzigsten April; genau ein Monat war seit Frühlingsanfang 1857 ins Land gegangen.

Sie sah sich forschend nach der großen, ziemlich eckigen Gestalt ihrer Freundin Edith Sobell um, mit der sie hier verabredet war, konnte sie jedoch nirgends unter den umherschlendernden Paaren entdecken. Die weiten Reifröcke der Frauen schienen den feinen Schotter auf den Wegen fast zu streifen, ihre hocheleganten Begleiter hatten etwas leicht Großspuriges an sich. Der schwache Wind trug die Bläserklänge einer Kapelle durch die Luft, die irgendwo in der Ferne einen flotten Marsch spielte.

Hester hoffte, daß Edith sich nicht verspäten würde. Sie hatte um dieses Treffen gebeten und gemeint, ein Spaziergang unter freiem Himmel wäre wesentlich angenehmer, als in einem Kaffeehaus zu sitzen oder in einem Museum – beziehungsweise einer Galerie – herumzulaufen, wo sie möglicherweise auf Bekannte stieß und das Gespräch mit Hester unterbrechen mußte, um höflichen Unsinn auszutauschen.

Edith konnte den lieben langen Tag mehr oder minder tun, wonach ihr der Sinn stand; laut ihren eigenen Worten hatte sie sogar mehr Zeit als genug. Hester indes war gezwungen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gegenwärtig arbeitete sie als Krankenschwester bei einem pensionierten Offizier, der gestürzt war und sich den Oberschenkelknochen gebrochen hatte. Im Krankenhaus, in dem sie nach der Rückkehr von der Krim ihre erste Stellung gefunden hatte, war ihr gekündigt worden, weil sie die Dinge selbst in die Hand genommen und einen Patienten in Abwesenheit des Arztes auf eigene Faust behandelt hatte. Seitdem war es ihr glücklicherweise immer wieder gelungen, eine Beschäftigung in Privathäusern zu finden. Lediglich ihren Erfahrungen in Skutari, wo sie bis vor knapp einem Jahr gemeinsam mit Florence Nightingale die Verwundeten betreut hatte, war zu verdanken, daß sie überhaupt weiterhin arbeiten konnte.

Ihr momentaner Arbeitgeber, ein gewisser Major Tiplady, erholte sich gut und hatte ihr bereitwillig den Nachmittag frei gegeben. Doch trotz des herrlichen Wetters paßte es ihr ganz und gar nicht, ihn im Regent’s Park in endloser Warterei auf eine Bekannte zu verbringen, die nicht kam. Während des Krieges hatte sie so viel Inkompetenz und Verwirrung erlebt und so viel sinnloses Sterben gesehen, das hätte verhindert werden können, wären Stolz und Ineffizienz einmal beiseite gelegt worden. Deshalb konnte sie nur noch wenig Geduld aufbringen, wenn sie derartige Fehler irgendwo zu erkennen glaubte, und reagierte zum Teil recht hitzig darauf. Ihr Verstand arbeitete schnell, ihre Interessen waren intellektueller geartet, als bei einer Frau gemeinhin gefragt war, ihre Ansichten – ob nun richtig oder falsch – wurden mit zuviel Überzeugung vertreten. Edith würde sich einen wirklich guten Grund einfallen lassen müssen, um ihre Verspätung zu erklären.

Hester wartete eine weitere Viertelstunde, während der sie rastlos zwischen den Narzissenbeeten auf und ab lief und zunehmend gereizter und ungeduldiger wurde. Was für ein rücksichtloses Benehmen, zumal der Treffpunkt extra zu Ediths Bequemlichkeit ausgesucht worden war; sie wohnte in Clarence Gardens, kaum mehr als einen halben Kilometer entfernt. Hesters Erbitterung stand womöglich in keinerlei Verhältnis zu dem tatsächlichen Af front. Obwohl sie sich dessen bewußt war, konnte sie weder verhindern, daß ihr Unmut immer größer wurde, noch daß sich ihre behandschuhten Hände zu Fäusten ballten oder ihr Schritt sich beschleunigte und ihre Absätze grimmig über den Boden klapperten.

Sie wollte die Verabredung gerade endgültig vergessen, als sie Ediths linkische, auf seltsame Art ansprechende Gestalt erblickte. Zum Zeichen der Trauer um ihren verstorbenen Mann trug sie nach wie vor überwiegend Schwarz, obwohl er bereits seit fast zwei Jahren tot war. Sie hastete mit bedenklich wehenden Röcken über den Weg, die Haube derart weit auf dem Hinterkopf, daß sie jeden Augenblick vollends hinunterzurutschen drohte.

Hester war erleichtert, daß sie doch noch gekommen war. Sie ging Edith entgegen, ohne es sich allerdings nehmen zu lassen, sich insgeheim eine passende Bemerkung hinsichtlich der verschwendeten Zeit und der groben Rücksichtslosigkeit zurechtzulegen. Doch dann sah sie Ediths Miene und wußte sofort, daß etwas nicht stimmte.

»Was ist passiert?« fragte sie, als sie sich auf einer Höhe befanden. Ediths intelligentes, exzentrisches Gesicht mit dem weichen Mund und der leicht gebogenen Nase war leichenblaß. Das blonde Haar hing unordentlicher unter der Haube heraus, als der Wind und ihr überaus hektisches Vorwärtseilen gerechtfertigt hätten. »Was ist los?« wiederholte Hester beunruhigt. »Bist du krank?«

»Nein...«, stieß Edith atemlos hervor. Impulsiv nahm sie Hesters Arm, ohne stehenzubleiben, und zog diese mehr oder minder hinter sich her. »Mir geht’s soweit ganz gut – wenn ich auch ein Gefühl habe, als hätte ich tausend Schmetterlinge im Bauch, und keinen klaren Gedanken fassen kann.«

Hester hielt abrupt an, ohne ihren Arm zu befreien. »Warum? Was ist denn nur passiert? Nun sag schon.« Ihr Ärger war völlig verflogen. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

Ein reumütiges Lächeln glitt über Ediths Züge und war sofort wieder verschwunden.

»Nein – abgesehen davon, mir eine Freundin zu sein.«

»Das bin ich sowieso«, versicherte Hester. »Was ist geschehen?«

»Mein Bruder Thaddeus – General Carlyon – hatte gestern abend während einer Dinnerparty bei den Furnivals einen Unfall.«

»Herrje, das tut mir leid. Nichts Ernstes hoffentlich. Ist er schwer verletzt?«

Fassungslosigkeit und Verwirrung stritten in Ediths Gesicht um die Vorherrschaft, was es noch bemerkenswerter aussehen ließ, als es ohnehin schon war. Zwar konnte es in keiner Hinsicht als schön bezeichnet werden, doch die rehbraunen Augen verrieten Humor, der Mund eine gute Portion Sinnlichkeit, und der Mangel an Ebenmäßigkeit wurde durch die unübersehbaren Anzeichen eines blitzschnellen Verstandes mehr als ausgeglichen.

»Er ist tot«, verkündete sie, als wäre ihr das Wort selbst völlig fremd.

Hester, die im Begriff gewesen war, sich wieder in Bewegung zu setzen, blieb wie angewurzelt stehen. »Großer Gott! Mein aufrichtiges Beileid. Was ist ihm denn zugestoßen?«

Edith runzelte die Stirn. »Er ist die Treppe hinuntergestürzt«, sagte sie langsam. »Deutlicher ausgedrückt: er fiel über das Geländer, landete frontal auf einer Ritterrüstung und bohrte sich, soweit ich weiß, deren Hellebarde in die Brust...«

Hester konnte nichts weiter tun, als erneut ihr Mitgefühl kundzutun.

Edith hakte sich schweigend bei ihr ein. Sie machten kehrt und gingen noch einmal zwischen den leuchtenden Blumenbeeten entlang.

»Er war auf der Stelle tot, heißt es«, fuhr Edith nach einer Weile fort. »Was für ein unglaublicher Zufall, daß er ausgerechnet so auf diesem unglückseligen Ding landen mußte.« Sie schüttelte kurz den Kopf. »Eigentlich sollte es doch möglich sein, hundertmal dagegenzufallen, es lediglich umzustoßen und sich dabei ein paar schlimme blaue Flecken zu holen – vielleicht sogar gebrochene Knochen –, aber nicht gleich von der Hellebarde aufgespießt zu werden!«

Ein eleganter Herr in Uniform spazierte an ihnen vorbei. Die schimmernde goldene Tresse und die blanken Knöpfe seines Rotrocks funkelten im Sonnenlicht. Er machte eine leichte Verbeugung, was sie mit einem mechanischen Lächeln quittierten.

»Ich selbst war noch nie bei den Furnivals«, sagte Edith, als er verschwunden war. »Infolgedessen habe ich auch keine Ahnung, wie hoch die Galerie über der Halle liegt, aber ich nehme an, es müssen vier bis fünf Meter sein.«

»Viele schwere Unfälle passieren auf der Treppe«, bestätigte Hester in der Hoffnung, die Bemerkung möge tröstlich und nicht salbungsvoll klingen. »So etwas kann leicht ein fatales Ende nehmen. Habt ihr euch sehr nahe gestanden?« Sie dachte an ihre eigenen Brüder: an James, den jüngeren, lebhafteren, der auf der Krim gefallen war, und an den ernsthaften, ruhigen und ein wenig aufgeblasenen Charles, das jetzige Familienoberhaupt.

»Nicht besonders«, gab Edith mit gekrauster Stirn zurück. »Er war fünfzehn Jahre älter als ich und hatte das Haus noch vor meiner Geburt verlassen, um auf die Kadettenschule zu gehen. Ich war erst acht, als er heiratete. Damaris hat ihn besser gekannt.«

»Deine ältere Schwester?«

»Ja. Sie ist nur sechs Jahre jünger als er.« Nach kurzer Pause berichtigte sie: »War.«

Hester machte einen raschen gedanklichen Zahlenüberschlag. Damit mußte Thaddeus Carlyon achtundvierzig gewesen sein; noch lange kein alter Mann, aber doch ein gutes Stück im mittleren Lebensabschnitt vorgerückt.

Sie drückte Ediths Arm. »Es war nett von dir, daß du extra hergekommen bist. Ich hätte vollstes Verständnis gehabt, wenn du lediglich einen Lakaien mit einer Nachricht vorbeigeschickt hättest.«

»Ich...