Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs (Reihe Jahrbuch der pädagogisch-psycholischen Diagnostik Test und Trends)

von: Ulrike Petermann, Franz Petermann

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2006

ISBN: 9783840919435 , 272 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 35,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Diagnostik sonderpädagogischen Förderbedarfs (Reihe Jahrbuch der pädagogisch-psycholischen Diagnostik Test und Trends)


 

Kapitel 3 Rahmenbedingungen und diagnostische Umsetzung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs in Hamburg und Schleswig- Holstein (S. 37-38)

Karl Dieter Schuck, Ulrich von Knebel, Wolfgang Lemke, Joachim Schwohl und Tanja Sturm

Zusammenfassung
Der Beitrag erörtert die geltenden gesetzlichen Grundlagen, die organisatorischen Rahmenbedingungen und die diagnostische Umsetzung der Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs für die Bundesländer Hamburg und Schleswig-Holstein. Es wird darauf eingegangen, inwieweit in diesen beiden Bundesländern eine lernprozessbegleitende, evaluative Diagnostik auf dem Hintergrund aktueller Bildungsbegriffe und Entwicklungsvorstellungen möglich ist, realisiert wird und hinsichtlich ihrer Güte sichergestellt ist.

1 Standards der sonderpädagogischen Diagnostik
Die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist eine systematische Erkenntnistätigkeit im pädagogischen und sonderpädagogischen Feld nach den Maßgaben schulrechtlicher und verwaltungstechnischer Vorgaben. Sie wird von speziell ausgebildeten Lehrkräften ausgeübt, die in ihrer diagnostischen Tätigkeit die Bedingungen des Systems Schule und den erziehungswissenschaftlichen und behindertenpsychologischen Fachdiskurs der vergangenen Jahrzehnte zu koordinieren haben. Die dazu vorliegende Literatur ist inzwischen unübersehbar und erlaubt zur Beurteilung der länderspezifischen Gegebenheiten nur aspekthafte Verweise auf entwickelte Standards.

Mit den programmatischen Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK) von 1994 in Form der „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK], 1994) sind Standards sonderpädagogischer Diagnostik und Förderung formuliert, die die fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung der 70er und 80er Jahre mit der „Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens“ (Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland [KMK], 1972) widerspiegeln. Damit befindet sich die sonderpädagogische Diagnostik in einem Spannungsfeld zweier gegensätzlicher und parallel wirksamer Paradigmen über Schule, Lernen und Entwicklung, Erziehung und Bildung. Unter den Vorgaben der KMK-Empfehlung von 1972 war es gerechtfertigt und notwendig, mit einer Psychodiagnostik auf dem Hintergrund von Persönlichkeitsmodellen inter- und intraindividuelle Unterschiede zu beschreiben und dieses Wissen für Entwicklungsprognosen und Schullaufbahnentscheidungen in einem nach kognitiven Anforderungsniveaus und nach einem schädigungsorientierten Behinderungsbegriff gegliederten Schulsystem zu nutzen. Die Psychologie wurde mit ihren Persönlichkeitsmodellen und ihrer hoch entwickelten Messtechnik psychischer Merkmale zur zentralen Bezugswissenschaft.

Der mit den KMK-Empfehlungen von 1994 verbundene tiefgreifende Paradigmenwechsel (Pluhar, 2003, S. 70) wird angedeutet im Wandel des zentralen Leitbegriffs: Bei der Erfüllung des diagnostischen Auftrags ist nicht mehr (wie nach der Empfehlung von 1972) nach der Sonderschulbedüftigkeit nicht normgerecht lernender und entwickelter Kinder zu fragen, sondern unter dem Vorrang der integrativen Beschulung aller Kinder nach dem sonderpädagogischen Förderbedarf und seiner Sicherstellung in der allgemeinen Schule. Fundament von Unterricht und Erziehung soll eine den Lernprozess begleitende Diagnostik (KMK, 1994, S. 9) sein. In diesem Kontext bedarf es einer Diagnostik, mit deren Hilfe die institutionellen und außerinstitutionellen Prozesse der Erziehung und Bildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, gegebenenfalls unter erschwerten Bedingungen, gestaltet und begleitet werden können. Nicht mehr der punktuell erhobene, aktuelle Status und die daraus abgeleitete, in der realen Schulwirklichkeit regelhaft nicht revidierbare Zuordnung zu einem schulischen „treatment“ ist gewünscht, sondern die optimale Gestaltung und Evaluation von Lernprozessen. Die bisher übliche prospektive Diagnostik hat sich dementsprechend zu einer evaluativen Diagnostik zu entwickeln, die sich der Formierung und Begleitung der bestmöglichen Förderung verschreibt (Schuck, 2000). Die noch immer gebräuchlichen diagnostischen Zuordnungs- bzw. Selektionsstrategien sind in Modifikationsstrategien (Schwarzer, 1982) zu überführen.

Dabei ist der diagnostische Prozess in Anlehnung an Kaminski (1970) als ein mehrphasiges zyklisches Verfahren der Informationssammlung zur Gestaltung und Begleitung des nachfolgenden pädagogischen Prozess zu konzipieren (vgl. u. a. Schuck 2003).