Gilde der Jäger - Engelslied

von: Nalini Singh

LYX, 2014

ISBN: 9783802593574 , 450 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Gilde der Jäger - Engelslied


 

1


Elena saß auf einer Bank im Central Park und sah zu, wie die Enten im Teich mit den Schnäbeln aufeinander einhackten. Sie dachte an das letzte Mal, als sie genau hier, auf dieser Bank, gesessen hatte. Auch damals war ihr durch den Kopf gegangen, dass ja offensichtlich nicht einmal Enten gewaltfrei zu leben vermochten, aber tatsächlich hatten ihre Gedanken um ganz andere Probleme gekreist. Eigentlich hatte ihr Kopf verzweifelt nach einem Ausweg aus dem Chaos gesucht, in dem sie steckte, seit sie es übernommen hatte, nach einem wahnsinnigen Unsterblichen zu suchen, weil ein anderer Unsterblicher dies so wollte. Einer, der ebenso gefährlich war wie der Gesuchte.

Schimmerndes Weißgold drängte sich in ihr Blickfeld, als sie den Kopf hob – auch dies ein Echo jenes anderen, schicksalhaften Tages. »Hallo, Erzengel.«

Raphael faltete die Flügel zusammen. »Was fasziniert dich eigentlich so an diesen Vögeln?«, fragte er mit einem Blick auf die Enten.

»Das weiß ich selbst nicht so genau. Mir gefällt es hier einfach.« Elena stand auf. Die Bank, auf der sie gesessen hatte, war für Menschen und Vampire aufgestellt worden, nicht für Engel. Ihre Flügel wurden beim Sitzen gequetscht, was auf Dauer ungemütlich war. »Aber ich finde, du solltest Geld für eine weitere Bank dort drüben stiften.« Sie deutete auf einen wunderschönen Flecken auf der anderen Seite des Weges, wo eine Sitzbank im Frühling von den duftenden rosa Blüten eines Zierkirschenbaums umrahmt und im Sommer von dessen zartgrünen Blättern beschattet werden würde. Jetzt lag bereits der Winter in der Luft, und der Baum bestand nur noch aus nackten Ästen und Zweigen, die sich dunkel von den umliegenden immergrünen Sträuchern und Büschen abhoben.

»Man wird solch eine Bank aufstellen«, sagte Raphael mit der ihm eigenen kühlen Arroganz, die Elena wünschen ließ, sie könnte ihn sofort zurück in ihr Bett zerren. »Aber dir ist doch klar, dass du solche Bänke jederzeit selbst stiften könntest?«

Elena blinzelte, wie sie es immer tat, wenn ihr wieder einmal bewusst wurde, dass sie jetzt ja förmlich in Geld schwamm. Sie war reich – natürlich nicht so reich wie ältere Unsterbliche, und in Raphaels Liga spielte sie schon gar nicht mit, jedoch für jemanden, der gerade erst erschaffen worden war, war ihr persönliches Vermögen mehr als respektabel. Sie hatte es sich auf einer Jagd verdient, bei der ihr das Rückgrat gebrochen worden war und sie geblutet hatte, bis sich ihr die Kehle mit der dunklen, nach Eisen schmeckenden Flüssigkeit gefüllt hatte. Auf der Jagd, bei der Raphael in ihr Leben getreten war. Momentan lag das Geld auf ihrem Konto bei der Gilde, wo es fast schon lächerlich hohe Zinsen einbrachte.

»Verdammt!« Sie stieß einen nachdenklichen Pfiff aus. »Du hast recht, ich bin eine reiche Frau. Ich muss wirklich langsam mal denken wie eine.«

»Diese Wandlung mitzuerleben wäre mir ein großes Vergnügen.«

»Ich warne dich!« Elena kniff die Augen zusammen. »Bald bin ich eine dieser Engelsfrauen, die sich für wohltätige Zwecke zum Lunch treffen. Das geht schneller, als du denkst.«

Da lachte er, ihr gefährlicher Liebster, der seine Stärke wie eine zweite Haut trug, dessen Gesicht eine so umwerfend maskuline Schönheit ausstrahlte, dass sie es immer wieder von Neuem kaum zu fassen vermochte, dass er jetzt ihr gehörte. Seine Haare waren schwarz wie der Himmel um Mitternacht, seine Augen erstrahlten in einem Blau, wie es sich auf der Welt kein zweites Mal finden ließ, sein Anblick schmerzte beinahe. Raphael war mächtig, wobei die Macht ihm im Blut lag. Niemand würde ihn je für etwas anderes halten als für das, was er war: ein Erzengel, der das Leben eines Menschen ebenso leicht auslöschen konnte wie Elena das einer Ameise.

Die Flügel, die in einem Bogen über seinen Schultern aufragten, verstärkten diese Ausstrahlung gefährlicher Verführung nur noch. Die Federn waren weiß, jedoch von feinen Goldfäden durchwirkt, die Licht und Blicke auf sich zogen, die Flügel makellos, bis auf eine interessante Narbe aus goldenen Federn, die geblieben war, nachdem Elena auf ihn geschossen hatte. Auch Raphaels Handschwingen hatten sich vor ein paar Monaten golden verfärbt, erstrahlten jetzt aber in einem glitzernden, metallenen Weiß. Wenn Raphael lachte, so wie gerade eben, fingen sich Sonnenstrahlen in diesen Handschwingen und erzeugten die Illusion von weißglühendem Feuer.

Nun aber war sein Lachen verklungen. »Ich fürchte«, sagte er, »die Neuigkeiten, die ich habe und mit dir besprechen muss, werden deine Gedanken in eine ganz andere Richtung lenken.«

Raphaels Ton ließ Elena aufhorchen. Um sie herum waren die Menschen stehen geblieben, um zu staunen, denn der Erzengel von New York war nicht gerade dafür bekannt, dass er gern und oft lachte, aber sie ignorierte die offenen Münder. »Was gibt es denn?«

»Zweierlei. Ich habe zwei … interessante Neuigkeiten.«

Elena rutschte das Herz in den Magen. »Geht es um Lijuan?« Raphaels Meisterspion zufolge erschuf die völlig irrsinnige alte Erzengelfrau wieder einmal Wiedergeborene, wenngleich auch nur in geringer Zahl. Lijuan bezeichnete ihr Tun als »Leben schenken«, aber diese gespenstigen willenlosen Diener waren der reinste Albtraum und eine Plage für den Rest der Welt. Was am schlimmsten war: Viele von ihnen wussten das selbst, und ihre Augen bettelten um Hilfe, wenn sie mit schlurfenden Schritten den Befehlen ihrer Herrin nachkamen.

Dann waren da noch die seltsam ausgedörrten Leichen, die man in der Nähe ihres Zufluchtsorts gefunden hatte und auf die sich niemand einen Reim machen konnte. Man hatte sich allgemein zu der Auffassung durchgerungen, es handele sich um fehlgeschlagene Versuche bei der Erschaffung von Wiedergeborenen, aber noch wusste niemand, ob diese Fehlschläge nun etwas Gutes oder Schlechtes bedeuteten. »Sie wird doch nicht …«

Noch bevor Elena ihre Frage beendet hatte, unterbrach Raphael sie mit einem Kopfschütteln, das die glänzenden schwarzen Haare wie Seide schimmern ließ. »Meine Mutter hat uns zu einem Ball eingeladen.«

Ohne nachzudenken, zog Elena ein Messer mit scharfer, dünner Klinge aus einem der schönen weichen Futterale an ihrem Unterarm, die ihr ihr Erzengel geschenkt hatte. »Entschuldigst du mich kurz? Ich will mir nur rasch die Augen ausstechen und mich auch gleich noch entleiben, wenn ich schon einmal dabei bin.« Bei Elenas letztem Besuch auf einem Ball der Unsterblichen hatte sie zum Schluss im Blut der Wiedergeborenen gebadet, während um sie herum die Stadt Peking in Flammen aufgegangen war. Ach ja: Und vorher war sie mit voller Wucht auf die Erde geknallt, nachdem man sie unsanft vom Himmel gepflückt hatte.

»Das, fürchte ich, kann ich dir nicht gestatten.« Raphael hatte den Ton angeschlagen, den Elena insgeheim als seine »Erzengelstimme« bezeichnete: formell und keinen Widerspruch duldend. »Wer sorgt denn dann auf dem Ball dafür, dass ich mich amüsiere? Ich sähe mich womöglich noch gezwungen, mir die eigenen Augen auszureißen, und die hast du doch, sagst du, recht gern.«

»Sehr witzig!« Seufzend lehnte Elena den Kopf an seinen muskulösen, mit Lederriemen umwickelten Arm. Anscheinend hatte Raphael gerade trainiert, höchstwahrscheinlich mit Illium als Sparringpartner. »Warum möchte Caliane einen Ball veranstalten?«

Raphael breitete seine Flügel über denen von Elena aus, eine vertraute, intime Geste, die von leisem Rascheln begleitet wurde. »Ihre Stadt und ihr Volk sind vollständig erwacht, und nun möchte sie die anderen Mächte der Welt offiziell begrüßen.« Er dachte kurz nach. »Meine Mutter mag vieles gewesen sein, aber unhöflich war sie nie. Als Uralte weiß sie um ihre Verantwortung. Sie kennt ihre Verpflichtung, sich an der Regentschaft der Welt zu beteiligen, selbst wenn dies aus einiger Entfernung geschieht.«

Vielseitig, intelligent, ehemals wahnsinnig: Raphaels Mutter war nicht die Frau, die sich so leicht in eine bestimmte Kategorie einordnen ließ. Vor Ewigkeiten hatte die Uralte ihren Sohn schwer verletzt und blutend auf einem verlassenen Feld liegen lassen und war davongegangen. Andererseits war sie aber auch gefährlich früh aus einem Jahrhunderte dauernden Schlaf erwacht, um ebendiesem Sohn das Leben zu retten. »Wann findet der Ball statt?«, wollte Elena wissen.

»In knapp zwei Wochen.«

»Gut. Ich werde dafür sorgen, dass meine Juwelen glitzern und meine Fingernägel vorzeigbar sind.«

Raphaels Lippen verzogen sich erneut zu einem Lächeln, als Elena ihre Klinge wieder ins Futteral zurückgleiten ließ, um ihm ihre Hände entgegenzustrecken, damit er die unlackierten Nägel bewundern konnte. Die waren nach Jägerart kurz geschnitten. Zudem wies Elenas linker Handrücken nach der Auseinandersetzung mit einem aufsässigen Vampir, den sie erst vor ein paar Stunden im Auftrag der Gilde zurückgeholt hatte, einige Abschürfungen auf, und als sie die Hände umdrehte, zeigten sich Handflächen voller Schwielen.

Diese Schwielen konnte nicht einmal ihr neuerdings unsterblicher Körper entfernen, dafür arbeitete die Jägerin zu viel mit Waffen. »Ich glaube, mit einer Maniküre ist es bei mir nicht getan«, seufzte sie.

»Solltest du mich je mit weichen Händen berühren, wie sie bei Hof üblich sind, dann weiß ich, dass ein Betrüger in deiner Haut herumläuft.«

Manche Frauen hätten sich von dieser Bemerkung vielleicht beleidigt gefühlt, aber bei Elena löste sie lediglich das heftige Verlangen nach einem sehr heißen Kuss aus, der in diesem Moment leider nur sehr öffentlich...