Visuelle Wahrnehmungsstörungen

von: Michael Niedeggen, Silke Jörgens

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2005

ISBN: 9783840917363 , 131 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 17,99 EUR

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Visuelle Wahrnehmungsstörungen


 

3 Störungen der Objektwahrnehmung (Objektagnosie) (S. 33-34)

3.1 Beschreibung der Störung

3.1.1 Bezeichnung und Definition

Unter einer visuellen Objektagnosie versteht man Einschränkungen im Erkennen und Identifizieren visuell präsentierter Gegenstände, die dem Betrachter eigentlich bekannt sein sollten. Agnosien können kombiniert in verschiedenen Sinnesmodalitäten auftreten (auditiv, taktil und visuell), sind aber zumeist auf eine Modalität beschränkt. Aus diesem Grund kann ein Patient mit der visuellen Objektagnosie Gegenstände erkennen, wenn er typische assoziierte Geräusche hört (Rascheln von Papier) oder er sie betasten darf.

In diesem Kapitel wird die Agnosie als Störung des visuellen Erkennens von modalitätsspezifischen Benennensstörungen abgegrenzt (optische Aphasie), da Letzteres nicht als „Wahrnehmungsstörung" im engeren Sinne zu definieren ist. Jedoch folgen wir aus pragmatischen Gründen der Trennung zwischen einer apperzeptiven und einer assoziativen Objektagnosie, die in den meisten Lehrbüchern zu finden ist.

Bei einer apperzeptiven Agnosie sind also die frühen visuellen Analyseprozesse defizitär, was vor allem in einer fehlerhaften visuellen Integration lokaler Merkmale deutlich wird. Der Eindruck eines Gesamtmusters muss daher oft mühsam konstruiert werden und wird nicht unmittelbar erfasst. Das Fallbeispiel des Patienten HL soll die Defizite verdeutlichen.

Fallbeispiel Patient HL (apperzeptive Agnosie)
Der Patient erlitt im Alter von 60 Jahren einen Posterior-Infarkt, der zuerst deutliche Gesichtsfeldeinbußen (homonyme Hemianopsie nach rechts) hervorrief. Trotz langsamer Rückbildung der kortikalen Blindheit blieben Probleme im Erkennen von Gesichtern, Farben und Objekten bestehen. Letztere konnten jedoch nach Betasten oder auf Grund eines typischen Geräusches ohne Probleme identifiziert werden. Besonders auffällig war sein Defizit, wenn der Patient künstliche Objekte (sinnlose Strichzeichnungen) und reale Objekte diskriminieren sollte. Das Abzeichnen von einfachen Objekten (Kreuz, Quader, Pfeife) gelang zwar zufrieden stellend, doch benötigte der Patient lange Zeit zum Anfertigen der Zeichnung, da er sie Strich-für-Strich kopierte. Aus diesem Grund wurden einzelne Elemente oft nur ungenügend in das Gesamtbild integriert. Das Defizit in der Identifikation von Objekten blieb auch nach Einsatz eines Computertrainings (Kategorisierung von Strichzeichnungen) über 3 Monate hinweg konsistent bestehen.

Bei einer assoziativen Agnosie wird das Abzeichnen eines Objektes ohne größere Probleme gelingen, was zuerst nicht auf ein inhaltliches Verkennen schließen lässt. Jedoch wird der Patient das Objekt nicht immer benennen oder seine Funktion erklären können, wie dies auch beim Patienten TH der Fall ist.

Im Gegensatz zu einer aphasischen Störung des Benennens ist das visuell präsentierte Objekt also von seiner semantischen Bedeutung entkoppelt. Der Patient wird nicht in der Lage sein, z. B. den Lebensraum eines visuell dargestellten Tieres anzugeben, kann aber seine Form, Farbe und Größe korrekt beschreiben.

Die Objekterkennung ist das Resultat einer Serie von Analyseprozessen, die an vielen Stellen unterbrochen werden können (siehe Störungsmodelle). Deshalb gibt es eine Reihe von Unterformen der Objektagnosie, die im Diagnoseprozess differenziert werden sollten.

3.1.2 Epidemiologische Daten

Da genaue Angaben zur Prävalenz fehlen, können wir zur Schätzung der Auftretenswahrscheinlichkeit nur eine Gruppenstudie heranziehen. Mulder et al. (1995) untersuchten eine Gruppe von 35 Patienten, die eine unilaterale Hirnschädigung auf Grund eines zerebrovaskulären Insults erworben hatten. In der Gruppe der Patienten mit einer linkshemisphärischen Läsion war die Wahrscheinlichkeit für Störungen der Objektwahrnehmung relativ häufiger (6 von 14 Patienten) als in der Gruppe rechtshemisphärischer Patienten (6 von 19). In der klinischen Praxis zeigen sich jedoch Objektagnosien sehr viel seltener als in der Studie angedeutet. Die Unterschiede gehen möglicherweise darauf zurück, dass assoziierte Defizite (z.B. Störungen der Kontrastsensitivität oder selektive Störungen der mentalen Rotation) nur ungenügend ausgeschlossen wurden.

Fallbeispiel Patient TH (assoziative Agnosie)
Der Patient hatte im Alter von 52 Jahren einen linksseitigen Thalamusinfarkt erlitten. Er berichtete selbst über keinerlei Veränderungen seiner kognitiven Fähigkeiten. Während der neuropsychologischen Untersuchung fiel jedoch auf, dass der Patient Gegenstände nicht benennen und auch nicht in ihrer Funktion beschreiben konnte. Dagegen bereitete ihm das Beschreiben der äußeren Gestalt oder das Abzeichnen einfacher schwarz-weißer Zeichnungen keine Probleme. Sowohl er als auch seine Ehefrau gaben an, dass er im Alltag die meisten Gegenstände korrekt benutzen würde und in seiner täglichen Funktionsfähigkeit daher nicht eingeschränkt sei.