Verhaltenstherapie in der Frühförderung

von: Fritzi Hoppe, Jörg Reichert

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2004

ISBN: 9783840917592 , 282 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 26,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Verhaltenstherapie in der Frühförderung


 

Mutismus bei geistiger Behinderung: Bericht über eine Intensivintervention im Mediatorenmodell (S. 74-75)

Udo B. Brack (†) und Heike Wahl

1. Problemstellung

Die Eltern einer 22-jährigen Frau mit Down-Syndrom wandten sich Hilfe suchend an die Abteilung Interventionsmethoden des Instituts für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Eltern befürchteten, den Kontakt zu ihrer Tochter Anna zu verlieren, da diese einen Mutismus, verbunden mit starkem Rückzugsverhalten, ausgebildet hatte. Wegen der Entfernung von rund 400 Kilometern zum Wohnort der Familie W. wurde eine Behandlung zunächst abgelehnt. Als dann aber die vielen vergeblichen Bemühungen der Eltern in den letzten Jahren deutlich wurden, eine zielgerichtete, auch auf ihren eigenen Umgang mit der Tochter bezogene Therapie zu finden, wurde die Möglichkeit erwogen, eine Therapie vor Ort im Mediatorenmodell durchzuführen. Dem kam die Tatsache entgegen, dass die Eltern bereit und in der Lage waren, anfallende Kosten zumindest vorzufinanzieren, da die Krankenkasse eine Bezahlung verweigerte und sich ein Rechtsstreit darüber abzeichnete.

2. Anamnese

Frau Anna W. ist durch das Down-Syndrom deutlich geistig behindert. Ihre Entwicklung verlief in diesem Rahmen unauffällig; sie sprach die ersten Worte mit 20 Monaten. Im Alter von vier Jahren wurde eine Leukämie diagnostiziert, deren Behandlung nach 1½ Jahren erfolgreich beendet wurde, ohne dass je ein Rezidiv aufgetreten wäre. Frau W. wuchs durchgehend in der Familie auf, in der sie auch zur Zeit der Mutismus-Therapie, inzwischen 22-jährig, lebte. Die Ablösung vom Elternhaus war durch den Einzug in eine betreute Wohngemeinschaft geplant. Mit 7½ Jahren wechselte Anna W. von einem Regelkindergarten in eine Grundschule für geistig Behinderte und später in eine Integrationsklasse. Mit 20 Jahren beendete sie ihre Schulzeit mit der 10. Klasse. Seit dieser Zeit arbeitete Anna W. im Rahmen einer vom Arbeitsamt geförderten Trainingsmaßnahme in einer Werkstatt für Behinderte. Erste Verhaltensauffälligkeiten zeigten sich mit 16 Jahren. Anna zog sich bei kleinen Frustrationen, mitunter aber auch ohne erkennbaren Anlass, in ihr verdunkeltes Zimmer zurück. Meist legte sie sich ins Bett. Toilettengänge dehnte sie bis zu zwei Stunden aus. Begleitet wurde der Rückzug von exzessiver Selbststimulation; dabei wedelte sie z.B. bis zu einer Stunde lang mit einem Taschentuch vor dem Gesicht oder hielt die Hände unter laufendes Wasser. Kontakte zu Eltern, Lehrern und Mitschülern wehrte sie meist gestisch und mimisch ab, manchmal auch durch körperliche Aggression (Fußtritte, Stöße mit dem Ellenbogen).

Etwa im Alter von 19 Jahren erreichten die depressiven Züge einen Höhepunkt. Anna weinte häufig, meist ohne erkennbaren Anlass. Einmal verweigerte sie über eine Woche jegliches Essen, vermutlich ausgelöst von im Biologieunterricht behandelten Insekten, die sie danach überall in der Nahrung vermutete. Die Eltern bemerkten in dieser Zeit eine vorwiegend verkrampfte Körperhaltung und betrachteten die hochgezogenen Schultern geradezu als Gradmesser des psychischen Befindens ihrer Tochter. Unabhängig von der Witterung schnürte Anna vor Verlassen des Hauses ihren Kopf fest in die Kapuze ihrer Jacke ein, was häufig einer Strangulierung ähnelte. Erst mit dem Ende der Schulzeit bzw. dem Arbeitsbeginn in der Werkstatt wurden Rückzug und depressive Tendenzen geringer. Das Rückzugsverhalten betraf von Anfang an auch die aktive Sprache. Seit etwa ihrem 16. Lebensjahr gab Frau W. sowohl in der Familie als auch in der Schule immer weniger verbale Äußerungen von sich. Über einen Zeitraum von etwa 2½ Jahren verstärkte sich der sprachliche Rückzug bis zum endgültigen Verstummen. Seit gut drei Jahren vor Therapiebeginn bestand ein vollständiger Mutismus, der lediglich von zwei oder drei gehauchten Wortäußerungen in überraschenden Situationen im Verlauf der letzten Monate unterbrochen wurde. Die Eltern betrachteten die Entstehung des Mutismus im Zusammenhang mit belastenden Ereignissen wie Pubertät, Tod der Großmutter, nicht erwiderte Verliebtheit in einen Mitschüler und erhebliche Ausgrenzungserfahrungen in der Integrationsklasse. Verschiedene Therapieansätze – homöopathische Behandlung durch den Pädiater oder Musiktherapie als Einzel- und Gruppenbehandlung – bewirkten keine Besserung.