Bullseye - Bull & Tiger

Bullseye - Bull & Tiger

von: Monica James

Sieben Verlag, 2021

ISBN: 9783864439735 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 6,99 EUR

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Bullseye - Bull & Tiger


 

Kapitel 1


Bull


„Ein Paar Motorradstiefel, Größe 47. Ein Harley-Davidson T-Shirt. Eine Jeans, an beiden Knien aufgerissen. Ein schwarzer Kapuzenpulli. Ein Portemonnaie aus Leder mit fünfundachtzig Dollar. Eine silberne Halskette mit einem Sankt Christophorus Anhänger. Und hier sind hundertfünfzig Dollar, eine Straßenkarte und drei Kondome. Holt dich jemand ab?“

Ich schüttele den Kopf und nehme meine Habseligkeiten, die auf dem langen Holztresen vor mir ausgebreitet liegen.

„Die nächste Bushaltestelle ist eine halbe Meile in die Richtung.“ Er zeigt über seine Schulter.

„Ich laufe“, erwidere ich ausdruckslos, streife die weißen Halbschuhe ab und befreie mich von der Uniform, die zwölf lange Jahre wie eine zweite Haut für mich gewesen ist. Es ist mir egal, dass eine Großmutter ein paar Meter entfernt keucht, als sie meine weiße Feinripp-Unterhose sieht. Ich muss das Zeug von mir runterkriegen.

„Wohin willst du gehen? Die Dinge haben sich geändert, seit du eingebuchtet worden bist. Die Leute sind nicht mehr wie früher.“

„Das finde ich schon raus.“ Meine Jeans sitzt etwas locker, was keine Überraschung ist. Man würde nicht einmal einen Hund mit dem Scheiß füttern, den ich da drin essen musste. Das T-Shirt sitzt jedoch eng um meinen Brustkorb und die Oberarme. Die Stiefel und der Kapuzenpulli passen noch. Die Kette lege ich als Letztes an.

Pederson hebt ungläubig eine Braue und zuckt mit den Schultern. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Viel Glück, Bull. Du wirst es brauchen.“

Ich nicke ihm dankend zu. Er war der einzige Wärter in diesem Höllenloch, den es überhaupt interessiert hat, ob ich lebe oder sterbe.

Ich werfe keinen letzten Blick mehr auf den Ort, der über ein Jahrzehnt mein Zuhause gewesen ist, denn jede Ecke und Kante dieses Dreckslochs hat sich für immer in mein Gedächtnis eingegraben. Man vergisst die Kinkora-Correctional Facility nicht, und sie vergisst dich ganz sicher auch nicht. Die Hälfte der entlassenen Kriminellen wird innerhalb von sechs Monaten wieder dort inhaftiert, weil es einfacher ist, mit der Politik im Knast klarzukommen, als mit der außerhalb.

Die Regeln sind einfach:

1. Vertrau niemandem.

2. Zeig keine Gefühle.

3. Verpfeif niemanden.

Wenn man diese drei einfachen Regeln befolgt, ist alles in Ordnung.

Doch die Regeln draußen sind mir und meinen Brüdern vollkommen fremd. Ich habe die gesellschaftlichen Regeln fast vergessen, denn wenn man sitzt, folgt man einem ganz anderen Gesetz. Im Knast überlebt der Stärkere und im Gegensatz zum realen Leben kann dich Unterlegenheit das Leben kosten.

Pederson drückt einen Knopf hinter dem Tresen und entlässt mich in die Freiheit. Ich drücke die Glastür mit der Schulter auf und schlendere auf das Stahltor zu, das langsam aufschwingt. Die Wachen beobachten mich aufmerksam. Ich rieche ihre Angst. Sie waren in der Nacht, als ich in meiner Zelle niedergestochen wurde, nicht so wachsam, sondern taten, als bemerkten sie nichts. Das hatte ich ein paar weißen Rassisten-Arschlöchern zu verdanken, die es nicht ertrugen, dass ich Hitler ein Muttersöhnchen nannte.

Aber das ist jetzt Vergangenheit, denn im Gegensatz zu meinen Vorgängern will ich kein Rückkehrer werden. Ich würde mich eher umbringen, als wieder in einer winzigen Zelle gefangen zu sein.

Als das Tor sich geöffnet hat, mache ich meine ersten Schritte als freier Mann. Ich sehe nach rechts und links und stelle fest, dass Detroit sich kein bisschen verändert hat. Es ist immer noch eine scheiß Einöde, in der Träume sterben.

Ich werfe die Karte und die Kondome weg und beschließe, mich nach Norden zu wenden. Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es ein paar Meilen entfernt ein billiges Motel. Die verlassene Straße hat für mich so lange für meine Freiheit gestanden, dass ich denke, dass ich etwas fühlen sollte, irgendetwas, als ich sie entlanggehe. Aber ich bin innerlich tot und fühle überhaupt nichts.

Das liegt wohl an der Gefängnisregel Nummer Zwei.

Je weiter ich gehe, desto isolierter wird alles. Ich bin dreißig Jahre alt und habe keine Ahnung, wohin ich will. Nicht nur buchstäblich, sondern auch im übertragenen Sinn. Ich habe keine Kenntnisse, keine Berufsausbildung und keine besonderen Talente. Als Kind war ich ein kleiner Dreckskerl, der in der Schule mehr hätte lernen sollen.

Wäre ich mehr wie mein älterer Bruder Damian gewesen, könnte ich jetzt ein verdammter Astronaut sein. Ich werfe meinen Eltern nicht vor, wo ich gelandet bin, denn es war nicht ihre Schuld. Es war meine. Ich war faul und geriet auf die schiefe Bahn.

Blut.

So viel Blut.

Ich verdränge die Erinnerung, die mich jedes Mal quält, wenn ich die Augen schließe. Wenn ich das hier überlebe, dann muss ich lernen, mit offenen und geschlossenen Augen zu leben. Nur so ende ich nicht wieder im Knast.

Es weht eine kühle Brise, und ich ziehe die Kapuze über meinen rasierten Kopf, denn die dunklen Sturmwolken vor mir sehen bedrohlich aus. Kurz darauf öffnet der Himmel seine Schleusen und die blöden Engel pissen mich voll. Ich beschleunige mein Tempo, bis ich renne. Endlich sehe ich das rot leuchtende Schild des Hudson Hotels ein paar Blocks vor mir.

Auch wenn sich der Name geändert hat, ist es immer noch dasselbe heruntergekommene Drecksloch, das es vor zwölf Jahren war. Auch noch so viel Farbe kann dieses Scheißding nicht aufpolieren. Aber dieses Drecksloch wird mein Zuhause sein, bis ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann. Also wird es mein trautes Heim.

Die Glocke über der Tür klingelt schwächlich, als ich die Holztür aufdrücke und glücklich bin, der Sintflut draußen zu entkommen. Hinter dem weißen Empfangstresen sitzt eine Frau mittleren Alters, die in einem Magazin blättert und eine dünne Zigarre raucht.

Ihre blauen Augen richten sich auf mich. „Hey, Süßer. Du bist ja ganz nass. Bist du im Regen hergelaufen?“

Ich nicke, streife die Kapuze vom Kopf und streiche über die kurzen, dunklen Stoppeln auf meinem Schädel. Dann lange ich in meine Gesäßtasche und ziehe einen Hundertdollarschein heraus. Das Totenschädel-Tattoo auf meinem Handrücken erregt ihre Aufmerksamkeit. „Wie viele Nächte kann ich dafür hierbleiben?“

Ihre roten Fingernägel sind wie Krallen, als sie den zerfledderten Geldschein zu sich zieht. Sie befühlt den Schein und sieht mich aufmerksam an. „Bist du gerade rausgekommen?“

Ich nicke nur. Sie muss den Verbrecher an mir riechen. „Für dich, Süßer, reicht das für eine Woche.“

„Danke.“

„Kein Problem.“ Sie fasst in ihren tiefen Ausschnitt und holt eine zerknitterte weiße Visitenkarte hervor. „Wenn du etwas brauchst, ruf mich an.“

Sie beugt sich über den Tresen und hält mir die Karte zwischen zwei Fingern hin. Ich nehme sie und lese den Namen.

Venus Bisset – Managerin

„Vielen Dank“, sage ich und halte die Karte hoch.

„Oh, Süßer“, schnurrt sie. „Jemand mit so schönen Augen wie du darf mich immer anrufen. Tag und Nacht.“ Sie zwinkert mit ihren lächerlich langen falschen Wimpern, die aussehen, als wären Raupen auf ihren Lidern mutiert.

„Danke, Venus.“

„Ich danke dir. Ich habe noch nie zuvor jemanden mit zwei verschiedenen Augenfarben gesehen. Es ist, als ob Himmel und Hölle einen persönlichen Krieg führen und die andere Seite erobern wollen“, sagt sie mit scheinbarer Ehrfurcht vor meiner genetischen Anomalität.

Ihr Blick schießt von meinem linken Auge, das hellblau ist, zu meinem rechten, das je nach Lichtverhältnissen grün oder fast bernsteinfarben ist. Ihre Aufmerksamkeit kehrt zum linken zurück. Das Blau scheint immer zu gewinnen.

„Welche Seite gewinnt?“, fragt sie, während ich mir wieder die Kapuze über den Kopf ziehe.

„Frag mich das nächste Woche.“

Sie lächelt spöttisch, leckt sich über die rot geschminkten Lippen und wühlt dann in einer Schublade herum, in der sich ein Stapel weiße Schlüsselkarten befindet. „Ich checke dich ein. Wie heißt du?“

Ich trete von einem Bein aufs andere und nenne ihr den Namen, unter dem ich seit jener Nacht bekannt bin. Aber dieser Name passt auch zu dem, zu dem ich geworden bin. „Bullseye. Aber nenn mich Bull.“

„Du redest nicht viel, was?“

Ich nicke...