Der Tote in der Hochzeitstorte

Der Tote in der Hochzeitstorte

von: Thomas Brezina

edition a, 2020

ISBN: 9783990014431 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 14,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Tote in der Hochzeitstorte


 

EINE IDEE


Veronika Wunderer saß in dem engen Büro hinter der Rezeption und starrte auf den Bildschirm des Computers.

Beim Googeln der Schlagworte »besondere Hochzeit« hatte sie ein paar Hunderttausend Einträge gefunden. Sie würde sich später am Abend auf Pinterest alle Boards ansehen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Im Augenblick las sie Erlebnisberichte von jungen Paaren: Was ihnen an ihrer Hochzeit besonders gefallen hatte und was sie sich anders gewünscht hätten.

Wenn sie damit fertig war, würde sie sich auf Youtube Videos von Hochzeitsplanern vornehmen und zur Auflockerung ein paar Videos mit den peinlichsten Hochzeitspannen ansehen.

Veronika streckte sich und sah zum Fenster hinaus. Erst vier Uhr und die Sonne versank schon hinter der Bergkette. Oben auf dem Kamm glänzten die Reste des ersten Schnees, der vor drei Wochen gefallen war.

Auf der Anzeige der Wetterstation, die auf ihrem Schreibtisch stand, konnte sie alle Werte lesen, die von den verschiedenen Messstationen rundum gefunkt wurden.

Temperatur: fünf Grad Celsius auf dem höchsten Gipfel.

Veronika hätte sich null Grad gewünscht und Schneefall. Drei schneearme Winter hatten das Hotel an den Rand des Ruins gebracht. Dazu war im März Corona gekommen und der Skandal um die Infektionen in der Après-Ski-Bar in Ischgl. Sie hatten nicht nur die Saison um einige Wochen früher als geplant beenden müssen, bisher waren für diesen Winter nicht einmal ein Drittel der üblichen Buchungen eingetroffen.

Aber Veronika hatte eine Idee. Wenn ihr Vorhaben gelang, würde sie dem Hotel zu allen Jahreszeiten Gäste bringen, nicht nur Skifahrer im Winter und ein paar Wanderer im Sommer.

Die Bürotür wurde aufgerissen und ihr Vater stapfte herein. Er würdigte sie keines Blickes, sondern steuerte ein Regal an der Wand an, das vom Boden bis zur Decke mit Aktenordnern vollgestopft war.

»Schönen Tag, dir auch, Vater«, grüßte Veronika mit sarkastischem Unterton.

Herr Wunderer drehte nicht einmal den Kopf zu ihr, sondern ließ den Zeigefinger auf den Ordnern von einem Schild zum nächsten gleiten.

»Suchst du etwas?«, fragte Veronika höflich. Sie musste sich sehr beherrschen, nicht loszubrüllen.

»Du hast keine Ahnung, wie üblich«, knurrte ihr Vater. Er war klein und gedrungen und selbst mit ausgestreckten Armen reichten seine Hände nicht bis zu den obersten Regalen. Veronika sah ihm zu, wie er versuchte, sich auf die Zehen zu stellen. Sein Übergewicht und die Steifheit in seinen Gelenken, die viel Alkohol und fettes Essen hervorgebracht hatten, machten sich bemerkbar.

Knurrend zog Herr Wunderer einen Stuhl heran, um ihn als Trittleiter zu verwenden. Seine Beine waren zu kurz und unbeweglich, um hinaufzusteigen.

»Soll ich dir helfen?«, bot Veronika an.

»Den violetten Ordner aus dem vorletzten Fach. Den zweiten von rechts.« Er deutete ihr, sich zu beeilen, hatte sie aber noch immer nicht angesehen.

»Was ist drinnen?« Veronika ging zu ihm und angelte ihn herunter. Sie war fast zwei Köpfe größer als ihr Vater und außerdem gut trainiert.

Herr Wunderer entriss ihr den Ordner. »Ich habe gerade ein gutes Geschäft gemacht. Ohne meine Geschäfte könnten wir schon zusperren, aber zum Glück habe ich vorgesorgt, damit wir uns wenigstens Brot leisten können, wenn es schon für die Butter nicht mehr reicht.«

Veronika betrachtete den Ordner im Arm ihres Vaters prüfend. Sie hatte ihn natürlich dort oben stehen gesehen, aber nie einen Blick hineingeworfen. Der alte Aktenschrank war ein Relikt aus der Zeit, als ihre Eltern das Hotel allein und auf ihre Art geführt hatten. Halbherzig hatten sie die Geschäfte vor zwei Jahren an Veronika übergeben, genau in der Zeit, als die Krise in der ganzen Region beonnen hatte. Es wunderte Veronika nicht, dass die Eltern ihr die Schuld dafür gaben.

»Kann ich erfahren, welches ›Geschäft‹ du gemacht hast?« Sie deutete auf den Computer. »Wenn es sich um Zimmerbuchungen handelt, müsste ich sie in das Reservierungsprogramm eingeben. Wenn es Zahlungen sind, muss ich sie ebenfalls eingeben.«

»Du brauchst gar nichts ›eingeben‹, ich mache das allein. Das Geld siehst du auch nicht, weil es in keine Buchhaltung kommt. Du weißt überhaupt nichts von Geld, hast du verstanden?« Ihr Vater verließ das Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Veronika atmete einmal tief durch und kehrte an den Schreibtisch zurück. Als sie begann, die Angebote eines renommierten Hochzeitsplaners auf seiner Homepage durchzulesen, platzte ihre Mutter herein.

»Weißt du nicht, wie spät es ist?«, fuhr sie Veronika an.

»Ich weiß es, aber wieso ist es wichtig?«

»In einer Stunde kommt die Lady. Was ist mit ihrem Essen?«

Frau Wunderer war so klein wie ihr Mann und wie jeden Tag tadellos frisiert und geschminkt. In ihrem dunkelgrünen Trachtenkostüm sah sie aus, als würde sie im nächsten Moment in der Halle neu angekommene Gäste begrüßen.

»Ich habe Spaghetti mit Crevettensoße und Safran vorbereitet«, erklärte Veronika.

»Die Küche ist dunkel.« Ihre Mutter sah sie mit diesem stechenden, kalten Blick an, den ihre Angestellten früher so sehr gefürchtet hatten.

»Die Soße habe ich schon vor ein paar Tagen gekocht und tiefgefroren.«

»Tiefgefroren? Bist du verrückt? Wenn die Lady das herausfindet, kündigt sie uns womöglich die Abmachung auf.« Ihre Mutter stemmte die Hände in die Seite. »Du hast den ganzen Tag nichts zu tun und wirst es doch wenigstens schaffen, unserem einzigen Restaurantgast ein frisches Abendessen zu kochen.«

»Die Küche ist normalerweise deine Verantwortung«, schnappte Veronika zurück.

»Meine Verantwortung ist es, mit der Bank zu telefonieren und jeden einzelnen unserer Stammgäste anzurufen und anzuflehen, doch wieder zu buchen. Man sollte meinen, das ist genug Arbeit für eine Frau, die längst in Pension sein könnte, aber nicht gehen kann, weil die Nachfolgerin mit einem Bein im Ruin steht.«

Die Eltern konnten es nicht lassen, Veronika mindestens einmal am Tag darauf hinzuweisen, dass sie ihre Tochter für völlig unfähig hielten.

Frau Wunderer trat hinter Veronika und warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Hochzeitsplaner? Willst du heiraten? Gibt es vielleicht endlich einen Schwiegersohn für uns?«

»Ich habe euch erklärt, dass ich versuchen will, unser Hotel zu einem beliebten Ort für Hochzeiten in den Bergen zu machen.« Sie schaltete den Computer aus. »Dafür brauche ich so viele Informationen wie möglich, um für die Gäste eine Traumhochzeit gestalten zu können.«

Die einzige Reaktion ihrer Mutter war ein verächtliches Schnauben.

»Die Hochzeit am 21. November ist eine Art Testlauf. Wenn sie gut klappt, dann kann ich Fotos an die Presse schicken und ins Internet stellen. Das wäre für uns kostenlose Werbung.«

Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Meine Güte, Veronika, immer diese Schnapsideen. Wer soll hier bei uns heiraten wollen? Und wieso soll irgendeine Zeitung über die Hochzeit von dieser Frau aus Kitzbühel und ihrem Freund schreiben?«

»Weil Zeitungen, das Fernsehen und viele Internetplattformen schon oft und viel über die zwei berichtet haben. Sie sind ein Teil der ›Knickerbocker-Bande‹. Erinnerst du dich nicht? Als Kinder haben sie einige mysteriöse Dinge aufgedeckt. Voriges Jahr waren die Zeitungen auch wieder voll, als sie einen Internetbetrug aufgedeckt haben.«

»Du rennst da Hirngespinsten nach.« Ihre Mutter machte sich ans Gehen. »Denk nicht, dass du für diese Hochzeit Personal anstellen kannst. Wir eröffnen erst am 1. Dezember. Auf uns brauchst du auch nicht zu zählen. Wir halten von diesem Vorhaben nichts.«

»Ich habe bereits alles geplant«, erwiderte Veronika. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es hat sich eine Praktikantin gemeldet, die gerne kommt. Nur für Kost und Logis. Ich werde sie geringfügig anmelden, damit sie versichert ist, und mit ihr gemeinsam die Hochzeit ausrichten.«

Frau Wunderer schüttelte noch immer den Kopf, als sie das Büro verließ.

Veronika schloss die Augen und redete sich gut zu, weder Mut noch Nerven zu verlieren. Um sich ein wenig aufzuheitern, öffnete sie ihre eigene Homepage, die sie für das Hochzeitsschlössel gestaltet hatte. Sie fand sie gelungen. Einfach, aber stilvoll und stimmungsvoll.

»Die besondere Hochzeit in den Bergen« stand in goldenen Buchstaben über einem Werbefoto des Hotels und dem Bild eines Brautpaares, das sich innig umarmt hielt.

Lilo Schroll hatte als Erste auf die Homepage geantwortet. Sie suchte einen guten und originellen Ort, um in Tirol zu heiraten, der kurzfristig verfügbar war. Das Hochzeitsschlössel erschien ihr gut geeignet.

Weil ihre Mutter sicherlich schon in der Küche lauerte, um zu kontrollieren, was Veronika für den Gast kochte, machte sich Veronika auf den Weg. Das Gemecker ihrer Mutter würde sonst noch unerträglicher werden.

Als Belohnung dafür, ihre Eltern auch an diesem Tag nicht erwürgt zu haben, würde sich Veronika später am Abend eine Stunde in ihrer kleinen Wohnung gönnen und verschiedene Datingseiten im Internet durchforsten. Sie hatte mehrere Profile angelegt und die kleinen Flirts, auch wenn sie nur online stattfanden, erfrischten sie. Jeden Tag schlug ihr Herz vor Aufregung, wenn sie überprüfte, ob neue Nachrichten für sie eingetroffen waren.

Vielleicht schaffte sie es auf diesem Weg eines Tages, einen Mann zu finden, mit dem sie das Hotel betreiben konnte. Oder noch besser: einen Mann, mit dem sie von hier wegziehen konnte und ein neues Leben beginnen, in...