Der Sandler - Roman

Der Sandler - Roman

von: Markus Ostermair

Osburg Verlag, 2020

ISBN: 9783955102357 , 350 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 12,99 EUR

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Der Sandler - Roman


 

NACHT


Die Jugend von heute meint, sie könne Karl ausstechen


Obwohl die Chance vielleicht nur eins zu tausend ist, probiert es Karl immer wieder. Kostet ja nichts. Mit krummem Finger stochert er ins Rückgabefach des Parkautomaten und tatsächlich liegt was drin. Zwei Euro, die Münze noch nagelneu. Sachsen, der Zwinger auf der Rückseite. Er lacht, als er den Gewinn einstreicht, zuckt aber dann zusammen, denn das Wort »Judensau« hallt von den Häuserwänden wider durch die Straße. Noch einmal: »Du Judensau!«

Karl geht schnell weiter. Er braucht ein wenig, um sich zu orientieren. Es ist hinter ihm, auf der anderen Seite der Straße, und schließt langsam zu ihm auf. Dr. Achim Ingmann. Ein Kollege. Man erzählt sich, dass auch er früher Lehrer an einem Gymnasium gewesen sei. Latein und Geschichte. Dann habe ihn hinter der Stirn der Schlag getroffen und er verlor das Bewusstsein. Danach ist er leider kein Ausnahmetalent am Klavier geworden, sondern hat lange gar nicht mehr gesprochen. Als er aber wieder damit anfing, war den Angehörigen wohl auch nicht nach Feiern zumute, denn er sei wie ausgewechselt gewesen und habe einfach alle, sogar seine engsten Freunde von früher, aufs Übelste beschimpft. Und immer ging es dabei um die Juden, das war wie eine fixe Idee. Albert behauptete mal, er sei ihm auf die Spur gekommen, aus Langeweile. Er habe im Bibliothekskatalog gestöbert und dann sei ihm der Name sofort aufgefallen, ein dicker Wälzer, 440 Seiten, Ingmanns Doktorarbeit: »Antisemitische Hetzdarstellungen. Über symbolische und politische Kontinuitäten vom Mittelalter über die Romantik bis zu den Nationalsozialisten.« Karl hat ihn schon lange nicht mehr gesehen und ist eigentlich davon ausgegangen, dass sie ihn eingewiesen haben. Pfeifendeckel.

Die ganze Straße ist verstummt. Karl duckt sich, damit Achim nicht rüberkommt. Das Paar, das dem Schreihals entgegengeht, kann sich nicht so leicht aus der Affäre ziehen. Zum Wechseln der Seite fehlen die Zeit und ausreichend Platz zwischen dem Allrad-Geländewagen und dem Twingo. Nur langsamer werden kann man, auf den Boden schauen und zur Seite gehen, um dann trotzdem angeschrien zu werden. Im Moment der Tic-Entladung dann die Flucht nach vorn in Form mehrerer kleiner Sprünge, als wären schon überall Pfützen. Achim schaut den beiden hinterher, die Hände in den Manteltaschen vergraben, die er dann plötzlich in Bankräubermanier nach oben reißt, als hätte er darin zwei Pistolen versteckt. Über seinem Hintern spannt der Mantel.

Etwas weiter vorne auf Karls Seite ist der halbe Gehweg blockiert. Eine Gruppe junger Männer sitzt in Liegestühlen und auf Isomatten vor einem Schaufenster, als würden sie dort campieren. Manche haben die Handys gezückt, um Achim zu filmen. Einer wagt sich besonders weit vor und benutzt einen geparkten Kombi sozusagen als Kugelfang. Achim bemerkt nichts davon und verschwindet langsam aus dem Blickfeld. Weil kaum noch Leute auf seiner Straßenseite sind, findet er keine Opfer mehr. Trotzdem kann er sich nicht zurückhalten und schreit es noch einmal heraus, bevor er um die Ecke biegt und den Filmemachern noch einen Paukenschlag zum Ende der Szene beschert. Sie klatschen in die Hände, der hinter dem Kombi macht die Becker-Faust: »Yo, Mann! Was geht ab?«

Als er sich umdreht und Karl sieht, drückt er wieder auf Aufnahme. Karl merkt das und fragt, ohne groß nachzudenken: »Was ist denn mit euch los?«

Stille. Manche kichern.

»Was willst du denn? Das Bier saufen wir selber, Alter!«

»Also ich … ich will … warum seid ihr denn hier vor dem Laden? Is da was los?« Karl zeigt auf das große Schaufenster, in dem ein einzelnes Paar Turnschuhe steht, leicht nach vorne geneigt auf einer mit schwarzem Samt überzogenen Scheibe, als wäre es ein Brillantcollier.

»Komm, Mann, verpiss dich einfach!«

Ein anderer widerspricht. Er steht aus seinem Campingstuhl mit in die Armlehne integriertem Bierflaschennetz auf und winkt Karl zu sich.

»Wir hier, wir ham uns gedacht, lass mal rausgehen, ’n paar Bierchen zischn, ’n bisschen Party machen auf der Straße. So wie du, weißt du?« Zum Zeichen der Verbrüderung blickt er ihm lange in die Augen. Sie hätten ja selbst nichts, nur ganz abgewichste Latschen an den Füßen. Aber morgen, da würde sich das ändern. Morgen wäre nämlich das Release der Limited Edition von … Ein anderer packt ihn von hinten an der Schulter und deutet auf Karls Füße. Wie krass sei das denn? Er solle sich mal diese Schuhe geben. Gelächter. Die Handys filmen von oben nach unten und dann wieder hoch. Karl kriegt Respekt. Karl wird gefragt, wem er denn diese Treter geklaut habe.

»Deiner Mutter!«, sagt nicht Karl, sondern irgendein anderer aus der Gruppe. Wieder Gelächter. Hände schlagen ein und schnippen auseinander. Sie stoßen an mit einer halbleeren und einer halbvollen Flasche.

»Fick dich!« Der Typ lässt Karl stehen und schlägt dem Witzbold mit der Faust auf den Oberarm.

Karl hat nicht wirklich zugehört, es geht ihm alles viel zu schnell. »Ihr wisst, dass gleich ein Gewitter kommt? Ich will euch nur warnen«, sagt er und schaut aufs Bier.

»Jaja, wissen wir schon längst!«

Einer, der gerade auf seinem Handy herumgetippt hat, hält es ihm hin. Karl geht einen Schritt auf ihn zu, beugt sich vor – »Fass es bloß nicht an!« – und glaubt auf einer digitalen Landkarte dunkelblaue Schleier über Bayern hinwegziehen zu sehen, bevor der Bildschirm schwarz wird. Er lacht kurz, stutzt ein wenig und fragt, ob sie dann jetzt nach Hause gehen, weil diese Nische hier sei sein Platz. Er zeigt neben das Schaufenster auf den Durchgang zum Innenhof. Knappe drei auf drei Meter, überdacht, vor einem Gitter mit Schloss. Eigentlich gar nicht so übel, denkt er und lügt: »Immer schon!«

»Schwachsinn! Da haben wir gestern schon gepennt. Und jetzt verzieh dich endlich!«

Unentschlossen bleibt Karl stehen. Die Erkenntnis, dass er sein Pulver verschossen hat, ergreift nach und nach Besitz von ihm und er will schon abdampfen, als einer aus der Gruppe versucht, sich freizukaufen. Er greift in den Kasten, hält ihm eine Flasche hin, Edelstoff, und sagt schon gar nichts mehr, sondern pfeift nur und zeigt mit dem Kopf in die Richtung, in die es für Karl gehen wird, wenn er zupackt.

Es kracht im Gebälk


Das Hotel beim Nordfriedhof, ein großer Turm aus Glas. Wieder muss Karl warten, auf den Bus, und wieder muss er sich die Zeit vertreiben. Er blickt auf die Fassade, erkennt Muster in den Lichtwürfeln, die aus der schwarzen Häuserfront brechen. Fassadenkreuzworträtsel: Zwischen die zwei beleuchteten Suiten im obersten Stockwerk passt der Name eines französischen Branntweins mit sechs Buchstaben. Senkrecht zwischen den Lichtern im sechsten und elften Stock »Reden ist Silber und Schweigen ist …«. Wieder senkrecht etwas versetzt: »Es geht berg…«, zwei Buchstaben.

Der Bus kommt und fährt fast vorbei. Karl muss laufen. Die hintere Tür geht nicht auf, die mittlere schon. Dann der wissende Blick des Busfahrers in den Rückspiegel. Er meint Karl, den einzigen Fahrgast, der sich gerade hinsetzt und dem dabei seine leere Bierflasche unter einen Sitz gerollt ist. Der Chauffeur sagt nichts, obwohl er es könnte, obwohl es Vorschrift ist, die Fahrkarte unaufgefordert vorzuzeigen. Es ist seine letzte Fahrt. Noch vier Stationen und er verdient auch nicht mehr, wenn er den Typen rauswirft. Wenn es blöd läuft, hat er sogar noch Scherereien. Und so ist der ganze Bus nicht nur erfüllt von Karls schwerem Körpergeruch, sondern auch von der Solidarität des geringsten Widerstands.

Industriepark-Nord. Karl steigt aus. Immer heftiger weht der Wind. Dreck und altes Laub wirbeln umher. Bald wird alles niedergeklatscht werden von den Fluten, die sich jetzt noch in den Wolken halten können. Erste zaghafte Blitze flackern fern in den Türmen, die sich über die Lichter der Stadt hinweg nach Norden schieben. Karl wird was zu sehen haben heute Nacht. Ein großes Spektakel, fast eine Art Entschädigung für den ewig gleichen Stadthimmel der letzten Wochen. Die Lichter des Hotels werden verblassen heute Nacht wie die roten Laternen in den Fensterecken des Club Tropical. Jede Gardine ist zugezogen. Da sind das Loch im Zaun und der Bewegungsmelder, der alles hell erleuchtet, als Karl den Pappdeckel hinter den Containern hervorzieht und unter das große Vordach auf die Laderampe legt. Hier hat er seine Ruhe. Weit und breit kein Mensch mehr auf den Beinen in dieser Geschäftswüste aus Beton, wo ausnahmsweise ein Sicherheitsdienst herrscht, der auch mal beide Augen zudrückt. Gegenüber das Schild der Straßenreinigung Würmbock GmbH – »Wenn’s stürmt und schneit ist Würmbock-Zeit!« Es muss schon ein Orkan kommen, damit ihn der Regen hier in seiner Nische trifft. Er packt seinen Schlafsack aus und setzt sich hin, Wein in der Hand,...