Im Land der Freien - MIt dem Greyhound durch Amerika

von: Andreas Altmann

DuMont Buchverlag , 2011

ISBN: 9783832185909 , 192 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Im Land der Freien - MIt dem Greyhound durch Amerika


 

BOULDER (S. 124-125)

Als ich den Bus um zehn nach zehn besteige, beginnt eine tagelange Glückssträhne. Ich weiß es, meine Vorfreude ist zu groß, um für die geringste Enttäuschung Platz zu lassen. Eine knappe Stunde von den Zumutungen Denvers entfernt liegt Boulder. Aufenthaltsort des Naropa Instituts, der einzigen offiziell anerkannten buddhistischen Universität in den USA und – noch mehr Freude auslösend – gleichzeitig Heim der von Allen Ginsberg gegründeten Jack Kerouac School of Disembodied Poets.

Linda sitzt neben mir, wir haben das gleiche Ziel. Seit acht Jahren wohnt sie in der 95?000 Einwohner zählenden Stadt, nach drei Jahrzehnten in New York. Sie erzählt eine unheimliche Geschichte: Wochen nach ihrem Umzug nach Boulder ging sie zum Augenarzt, um sich eine Brille verschreiben zu lassen. Sie unterzieht sich den anfallenden Untersuchungen, unter anderem auch dem Panorama-Test: Sie soll »ja« sagen, sobald sie einen grünen Punkt an der Peripherie ihres Blickfelds auftauchen sieht. Seltsamerweise erspäht sie den Punkt immer Sekundenbruchteile bevor er tatsächlich erscheint. Ärzte nennen dieses Phänomen »streetsmart in New York«: Linda hat in dieser Stadt unbewusst und permanent mit Gewalt und Verbrechen gerechnet. So ausdauernd und intensiv, dass ihr inneres Radarsystem immer auf der Lauer lag, um jeden möglichen Angreifer frühzeitig zu erkennen. So wurde sie eben streetsmart: eine, die instinktiv und sofort die Gesetze gefährlicher Straßen erkennt.
In Boulder wird Linda dieses Talent verlernen. Schon die ersten hundert Blicke befrieden: im Westen die Flatiron Mountains, im Osten der unerreichbare Horizont der Great Plains, mittendrin eine hübsche Stadt mit ansehnlichen Fassaden, mit Radfahrern in der Überzahl, mit öffentlichen Bussen, die Fahrräder transportieren, schriftlich ausgehängten Aufrufen des Bürgermeisters zur Freundschaft mit der Natur, mit unzähligen dicken Bäumen und dem wuchernden Efeu an den Mauern der University of Colorado.

Sogar die Anzahl von Einwohnern, die mit Trainingshose über dem breiten Hintern und Lockenwicklern im Haar zum Einkaufen geht, hält sich in Grenzen. Ein stillschweigendes Gesetz zur Einhaltung der Grundregeln des guten Geschmacks und des guten Willens scheint hier umzugehen. Selbst Autofahrer hupen weniger oft unzüchtig, bremsen, verfügen über die Kraft zur souveränen Handbewegung, die dem Fußgänger den Vortritt anbietet.

Und eine Innenstadt haben sie hier, die auch nach Geschäftsschluss nicht tot liegenbleibt und noch um Mitternacht ohne Patronengürtel und Handgranaten betretbar ist. Cafés stehen offen, locken. Wo Frauen und Männer Zeitungen und Bücher lesen, wo Schriftsteller und Dichter ihre handlichen Computer auspacken, wo kein von MTV inszenierter Musikantenstadl die Ohren zertrümmert.

Hier will man hinein. Weil einer der verrückten Idee erliegt, den Ort wieder bereichert zu verlassen. Und wäre es nur, weil ein »Healing Guide« ausliegt, der auf 125 Seiten Therapievorschläge unterbreitet, darunter einen Kurs »for better sexual loving« anbietet. Dazu die Hohe Schule asiatischer Liebeskunst und »the secrets of erotic kissing and touch«.

Boulder ist anarchisch. Einen Kurs anzubieten, der Zärtlichkeit und Wollust – statt banking und accounting – als Lebensprinzip vorschlägt, das ist kühn. Und wäre das Ergebnis nur, dass Joe Average seine statistisch bestätigten zwei Minuten pro Tag nicht mehr im Schnellschussverfahren hinter sich bringt, sondern als wacher Liebhaber.

Mein erster Wunsch, Boulder zu besuchen, kam, als ich vor Jahren in Irland an einem Meditationskurs teilnahm, dessen Methode sich auf tibetische Ursprünge berief. Der Wunsch wurde unwiderruflich, als ich vor Wochen zwei kurz aufeinander folgende Zeitungsmeldungen las, die zu Heiterkeitsausbrüchen und Minuten tiefversunkenen Staunens führten. Die Rede war von dem Hollywood-Star Steven Seagal, der kürzlich von einer hohen tibetischen Autorität zu einem reinkarnierten Lama erklärt wurde. Das Heitere daran: Mister Seagal ist ein Schauspieler, der als Held mehrerer äußerst erfolgreicher »Guter-Bimbo-gegen-schlechter-Bimbo«-Filme die Welt durchaus so hirnlos und wacker aufräumte wie seine noch berühmteren, noch hirnloseren Kollegen Stallone und Schwarzenegger.

Ich interpretierte diese Notiz als geniale Publicity-Finte made in USA zur kubikmeterweisen Vergrößerung der Bankkonten aller Beteiligten. Einen vierschrötigen Kino-Rowdy als Wiedergeburt eines Erleuchteten zu verkaufen, das ist ein starkes Stück