Der Meister von London - Roman

von: Benedict Jacka

Blanvalet, 2020

ISBN: 9783641256456 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Meister von London - Roman


 


1


Der Russel Square ist einer der skurrileren Bezirke Londons. Er liegt eingepfercht zwischen der Euston Road im Norden und Holborn im Süden, und es gibt nicht genug Läden, dass der Bezirk kommerziell zu nennen wäre, und nicht genug Häuser, um ihn als reines Wohngebiet durchgehen zu lassen. Universitäten mischen sich mit Hotels, und reiche Touristen und arme Studenten drängen sich auf den belebten Straßen. Angeblich ist er »literarisch« – dank der Assoziation mit der alten Bloomsbury-Verlagsgruppe –, doch da man ein Millionär sein müsste, um sich in der Gegend heute ein Haus leisten zu können, bezweifle ich, dass man viele Künstler dort findet.

Bildungseinrichtungen hat der Russel Square allerdings reichlich vorzuweisen: Englischschulen für Auswanderer, Colleges für die Studenten und das British Museum für alle. Ich wollte zu einem der Colleges, einem langen, mächtigen braunbeigen Schlackenbetonblock, der sich Institute of Education nannte, und wie immer sah ich voraus in die Zukunft, hielt Ausschau nach Gefahr, während ich darauf zulief. Ich fand nichts, hatte es auch nicht erwartet, aber aus irgendeinem Grund zögerte ich vor dem Eingang. Einen Moment lang dachte ich darüber nach umzukehren, dann schüttelte ich missmutig den Kopf und ging hinein.

Ich heiße Alex Verus, und ich bin ein Wahrscheinlichkeitsmagier aka ein Wahrsager. Ich bilde einen Lehrling aus, erledige Auftragsarbeiten für andere Magier und führe einen Zauberladen in Camden, wenn ich nicht gerade anderweitig mit persönlichen Problemen beschäftigt bin oder mit Menschen, die mir etwas antun wollen – wobei Letzteres häufiger vorkommt, als mir lieb ist. Mit einer Handvoll Magier und einer gewaltigen Spinne bin ich gut befreundet und weniger gut mit der magischen Regierung von Britannien, die man als den »Rat der Weißmagier« kennt. Der Rat kann mich aus zweierlei Gründen nicht leiden: Erstens glaubt man dort, dass ich ursprünglich von einem besonders fiesen Schwarzmagier namens Richard Drakh unterrichtet worden sei und als sein Lehrling diverse unerfreuliche Dinge getan hätte, und zweitens verdächtigen sie mich, dass ich vor ein paar Jahren für den Tod von zwei Weißmagiern während zweier unterschiedlicher Vorfälle verantwortlich gewesen sei. Unglücklicherweise entsprechen beide Verdächtigungen der Wahrheit.

Heute war ich jedoch nicht aus diesem Grund hier.

Wie an den meisten britischen Universitäten ist die Security am Institute of Education nicht existent. Ich lief einfach am Empfang vorbei und stieg die Treppe im großen quadratischen Aufgang mit den großen quadratischen Betonpfeilern und großen quadratischen, hässlichen Gemälden hinab. Ein Schild unten wies die Logan Hall aus, doch ich ging nicht weiter geradeaus, sondern bog nach links ab. Der Gang wurde schmaler und hatte wenige Türen und Fenster. Zu meiner Rechten hörte ich eine Stimme, aber ich lief weiter um den Raum herum, wobei ich gelegentlich kleine Treppenabsätze hinaufsteigen musste. Erst als ich die Halle umrundet hatte und auf der Rückseite ankam, blickte ich durch eine der Türen.

Es war ein gewaltiger Hörsaal mit verblassten roten Sitzen, die in halbrunden Reihen nach unten zu einem erhöhten Podium aus Holz führten. Hunderte Menschen saßen dort, doch mich interessierte nur der Mann auf dem Podium. Er stand da und hielt eine Vorlesung; die Projektionsleinwand hinter ihm zeigte »Die Europäische Integration aus historischer Perspektive«. Es war seine Stimme, die ich gehört hatte.

Ich hatte die Tür nicht geöffnet, aber im Holz befanden sich Gitterglasfenster, die mir einen guten Blick hinein gewährten, und ich stand ruhig da, beobachtete den Mann. Er sah aus wie Mitte fünfzig, seine Haltung war gebeugt, und die Haare waren fast vollständig silbrig weiß. Auf den ersten Blick waren wir einander nicht besonders ähnlich, aber etwas in seinen Zügen glich meinen, nur älter und milder. Er hatte mich nicht gesehen – der Korridor war dunkler als der hell erleuchtete Saal, und ich wusste, dass die Lichter sich auf dem Fensterglas spiegeln würden. Natürlich hätte ich die Tür öffnen und eintreten können, aber ich blieb, wo ich war.

Ich stand bereits fünf Minuten so da, als ein leises Geräusch meine Aufmerksamkeit erregte. Unterschiedliche Bewegungen rufen unterschiedliche Geräusche hervor – die gleichmäßigen Schritte, wenn jemand geht, das Schaben von Füßen, das Trappeln eines Menschen, der es eilig hat – und man kann üben, sie zu filtern und diejenigen herauszuhören, die nicht hineinpassen. Das hat nichts mit Magie zu tun, nur mit Wachsamkeit – eine Urfähigkeit, die jeder erlernen kann, die jedoch den meisten Menschen im modernen Zeitalter abhandengekommen ist. Jeder, der als Raubtier oder Beute lebt, lernt sie aber schnell.

Das Geräusch, das ich gehört hatte, rührte von jemandem, der versuchte, lautlos zu sein und im Verborgenen zu bleiben, und ich trat leise in die Deckung des Türsturzes und legte eine Hand an den Griff des Messers unter meinem Mantel. Der Türsturz blockierte die Sicht, verbarg mich vor jedem hinter oder vor mir. Er blockierte auch meine Sicht … aber ich brauche meine Augen nicht, um zu sehen.

Der Gang war leer und ziemlich gewöhnlich, helle Wände und ein verblasster blauer Teppich. Mit meiner Sicht erkannte ich die Ranken möglicher Zukünfte vor mir, Adern aus Licht, die sich gabelten und in der Dunkelheit verzweigten. In jeder möglichen Zukunft unternahm ich etwas anderes, ging einen unterschiedlichen Weg, und in jeder passte sich mein zukünftiges Ich dementsprechend an: Tausende von Zukünften, die sich zu Millionen und Billionen verästelten. Ich suchte zwei der feinen Lichtranken aus und konzentrierte mich auf sie, sodass sie stärker wurden und wuchsen. In einer trat ich aus meinem Versteck und wandte mich nach links; in der anderen ging ich nach rechts. Meine zukünftigen Ichs liefen vor mir her, und ich beobachtete sie, lenkte die möglichen Zukünfte so, dass ich weiter den Gang hinablief und erkannte, was meine Augen in der Zukunft sehen würden. Auf der rechten Seite fand mein Ich nichts. Das linke Ich nahm ein Handgemenge wahr. Die Zweige links teilten sich, vervielfachten sich, und ich führte mein zukünftiges Ich so, dass es diesem Geräusch nachging. Mehr Möglichkeiten erstreckten sich vor mir, und ich erkannte darin ein vertrautes Element, eine Art Signatur. Ich ging näher heran …

… und wusste plötzlich, wer mir folgte. In dem Augenblick waberte die Zukunft und löste sich auf: Jetzt, da mir klar war, wer es war, hatte ich keinen Grund, dort entlangzugehen und es herauszufinden. Diese möglichen Aktionen mit dem Körper auszuführen hätte wohl gut eine Minute in Anspruch genommen, aber Divination funktioniert in Gedankenschnelle und ist nur dadurch begrenzt, wie schnell und klar man sich fokussieren kann. Von Anfang bis Ende hatte alles weniger als eine Sekunde gedauert.

Von der einen Seite des Gangs hörte ich erneut eine heimliche Bewegung. Ich hatte mich ganz still verhalten, während ich meine Magie eingesetzt hatte, und mein Verfolger konnte nicht wissen, dass ich da war. Vorsichtige Schritte näherten sich den Gang entlang. Ich wartete, ließ sie näher kommen, dann trat ich aus meiner Nische, und die Finger meiner rechten Hand zuckten vor.

Das Mädchen, das mir gefolgt war, sprang zurück. Sie trug Jeans und ein hellgrünes Top, und als sie mich sah, bewegte sie sich, aber die Metallscheibe, die ich geworfen hatte, prallte von ihrem Bauch ab, bevor sie sie abwehren konnte. Sie ging in Kampfhaltung, die rechte Hand fuhr hinter ihren Rücken.

»Eine Waffe nutzt dir nichts«, sagte ich zu ihr. »Du bist tot.«

Mit einem Seufzen ließ Luna den Arm sinken und richtete sich auf. »Wie lange wusstest du, dass ich da bin?«

Luna ist zur Hälfte Engländerin und zur Hälfte Italienerin, mit heller Haut, welligem hellbraunem Haar und sehr viel mehr Selbstbewusstsein als früher. Sie ist eine Adeptin und keine Magierin, Trägerin eines alten Familienfluchs, der sie beschützt, der jedoch jeden tötet, der ihr zu nahe kommt, und seit etwa zwei Jahren mein Lehrling. Mittlerweile hat sie ihre Kontrolle über den Fluch so weit entwickelt, dass man sich fast unbeschadet in ihrer Nähe aufhalten kann, solange man sie nicht berührt.

»Wenn du es dir zur Gewohnheit machst, Magier zu beschatten«, sagte ich, »dann musst du besser darin werden, dich zu verstecken.«

»Ja, Meister«, sagte Luna resigniert und beugte sich herab, um das Ding aufzuheben, das ich ihr entgegengeschleudert hatte. Es war eine Ein-Pfund-Münze, und als ihre Finger sie berührten, sah ich den silbrig grauen Nebel ihres Fluchs, der sie umschloss. Dabei warf sie einen raschen Blick zu der Tür hinter mir und versuchte zu erkennen, was sich dahinter befand.

Innerlich verdrehte ich die Augen. »Komm schon – nach oben«, sagte ich und ging zurück zur Treppe. Die Stimme des Dozenten tönte hinter mir weiter, aber ich sah mich nicht um.

»Ich dachte, ich hätte dir aufgetragen, den Laden zu hüten«, sagte ich zu Luna.

Der Innenhof des Institute of Education war aus Stein mit ein paar vereinzelt stehenden Bäumen. Ein Fakultätsgebäude, das wie eine gewaltige Betontreppe aussah, ragte über uns auf; am bewölkten Himmel sah man von hier aus den schmalen grauen Zylinder des BT Towers. Studenten liefen und radelten allein oder zu zweit vorbei, und ein kühler Wind strich über die Steine.

»Es ist ja nicht so, als würde die Welt untergehen, wenn er ein paar Stunden lang nicht geöffnet hat«, sagte Luna. »Du machst ihn ständig zu.«

»Ich mache ihn zu. Das Schlüsselwort dabei ist...