Das Buch von Ascalon - Historischer Roman

von: Michael Peinkofer

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2011

ISBN: 9783838710150 , 846 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Das Buch von Ascalon - Historischer Roman


 

PROLOG


Der Schein einer Kerze, die fast herabgebrannt war, spendete nur spärliche Helligkeit. Längst reichte seine Kraft nicht mehr aus, um die ganze Kammer zu beleuchten. Das Zeichen jedoch schien das noch vorhandene Licht auf sich zu ziehen wie süßer Nektar, der die Bienen lockte. Zwei Dreiecke von vollendeter Gleichmäßigkeit und Form. Das eine einer Pyramide gleich, das andere auf dem Kopf stehend, beide ineinander verschlungen, verbunden im Licht der Ewigkeit.

»Nun, da mein Ende naht«, sagte die Stimme, die kraftlos geworden war und ihre einstige Autorität und Stärke nur mehr erahnen ließ, »begreife ich, was einst Abraham fühlen musste, als der Herr ihm auftrug, sein Liebstes zu geben. Denket nicht, dass ich nicht um die Bürde wüsste. In den Jahren, die kommen, werdet ihr oft an sie denken. Ihr werdet euch an diesen Augenblick erinnern und an die Pflicht, die ihr übernommen habt, und ihr werdet euch fragen, wann der Tag kommen wird, da der Herr sein Recht von euch fordert. Ihr werdet euer Leben leben, so wie ich das meine gelebt habe, werdet Familien gründen und Kinder haben. Über den Geschäften und Sorgen des Alltags werdet ihr bisweilen vergessen, was einst gewesen ist, und womöglich, wenn es dem Herrn gefällt, wird euer Leben zu Ende gehen, so wie das meine nun zu Ende geht, ohne dass er diese große Pflicht von euch gefordert hat. Vielleicht aber«, fügte die Stimme hinzu, schwach und kaum noch vernehmbar, »werden einst auch Zeiten kommen, die alles verändern, und auf diese Zeiten müsst ihr vorbereitet sein. Dies sollt ihr nie vergessen. Adonai segne und behüte euch, meine Nachkommen und Erben. Er lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig. Er wende sein Angesicht euch zu und gebe euch …«

Der Segenswunsch erstarb auf den dünnen, blutleer gewordenen Lippen. Im selben Augenblick erlosch die Kerze, und die Kammer fiel in Dunkelheit.

East Sussex, England
Im Jahr der Eroberung, Oktober 1066

Der junge Ritter hatte aufgehört zu zählen. Das wievielte Dorf war es, dessen strohgedeckte Hütten in Flammen standen und dessen Bewohner in heller Panik umherrannten, schreiend und heulend, bis die Klingen oder die Pfeile der Angreifer ihrem Leben ein grausames Ende setzten? Er konnte es nicht sagen. Es war auch nicht seine Aufgabe, darüber nachzudenken oder gar den Befehl des Herzogs anzuzweifeln. Doch war ihm klar, dass sich alles, was seine Augen in diesen Tagen und Nächten erblickten, unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrennen würde.

Er sah das Schwein, das quiekend über den Dorfplatz rannte und dabei lichterloh brannte; den Greis, der mit zitternden Händen versuchte, die blutigen Eingeweide, die aus seinem aufgeschlitzten Leib quollen, wieder zurückzustopfen; die blonde Frau, die wie von Sinnen schrie, während ein normannischer Kämpfer sie an den Haaren über den Boden schleifte; den Jüngling, der kaum den Kinderschuhen entwachsen war und sich dennoch mit einer Mistforke wider­setzte, ehe ein Schwerthieb ihm den Kopf halb von den Schultern schlug.

Tod und Sterben war überall. Der herbstfeuchte Boden war getränkt von Blut, die kalte Luft erfüllt vom Brausen der Feuer und dem Geschrei derer, die dahingeschlachtet wurden. Bei Sonnenaufgang würden nur noch schwelende Trümmer und verwesende Leichen an das Dorf erinnern, dessen Namen der Ritter noch nicht einmal kannte.

Das Schwert umklammernd, an dessen Schneide das Blut Unschuldiger klebte und das wie Blei in seinen Händen wog, stand er am östlichen Ende des Dorfes, wo es einen schmalen Flusslauf und eine Mühle gab. Ihr Strohdach brannte ebenfalls. Der Müller, dessen Frau und Kinder lagen erschlagen in ihrem Blut. Das Lodern der Flammen warf lange Schatten, die die Angreifer auf ihren schnaubenden Pferden wie Reiter der Apokalypse erschienen ließen, die Tod und Untergang brachten.

Tränen stiegen ihm in die Augen, und dies lag nicht nur am beißenden Rauch, der von den Häusern herüberzog. Trauer überkam den Ritter, als er das Elend der Dorfbewohner sah, über die so unvermittelt das Verderben hereingebrochen war. Trotz der Tränenschleier, die seinen Blick trübten, bemerkte er plötzlich, dass jemand auf ihn zurannte.

Es war ein junger Mann, ein iuvenis wie er selbst, allerdings war sein Haar blond und schulterlang, und er trug die wollene Kleidung eines Bauern. Er war verletzt, blutete aus einer Wunde an der Schläfe, und ein Pfeil, den ein normannischer Bogenschütze auf ihn abgeschossen haben mochte, hatte seinen linken Unterarm durchbohrt.

Hals über Kopf hielt er auf den Fluss zu, den er wohl überqueren wollte, um zu entkommen. Der Ritter tat, was ihm aufgetragen worden war, und stellte sich ihm in den Weg.

Der Jüngling erschrak, aber es war zu spät, um die Laufrichtung zu ändern. Flussaufwärts versperrte die brennende Mühle den Weg, flussabwärts ein hölzerner Zaun, den er in seinem Zustand nicht ohne Weiteres überwinden konnte. Also rannte er weiter, auf den Ritter zu, der Schwert und Schild hob und ihm entgegentrat.

Der Zusammenprall war ebenso kurz wie heftig.

Mit fürchterlichem Gebrüll stürzte der Jüngling sich auf ihn, schien ihn einfach über den Haufen rennen zu wollen. Doch der Ritter hielt dem Ansturm stand und wehrte den Angreifer mit dem Schild ab. Der junge Angelsachse prallte zurück, wankte kurz und ging dann nieder. Sofort war der Ritter über ihm, das Schwert zum Stoß erhoben, um ihn dem Befehl seines Herrn gemäß zu töten – aber er zögerte.

Denn in diesem Moment schaute der Jüngling zu ihm auf, und beider Blicke begegneten sich. Verzweiflung und Todesangst sprachen aus den Augen des Bauern, der wehrlos im Morast lag und aus dessen Pfeil- und Kopfwunde das Blut floss.

Das Schwert verharrte in der Luft, und für einen Moment kam es dem Normannen so vor, als würden die Schreie und das Tosen der Feuer um ihn herum verstummen. In der Stille, die plötzlich eintrat, konnte er den Angelsachsen etwas sagen hören. Der Ritter verstand die Worte nicht, aber sie klangen hilflos und flehend. Noch einen Augenblick lang zögerte er, dann besann er sich seines Eides – und seiner Pflicht.

Northumbria, England
September 1080

»Verdammt.«

Osbert de Rein verzog missbilligend das Gesicht.

Er hatte sorgfältig gezielt und den Pfeil genau ins Ziel gelenkt – und nun sah es doch so aus, als müsste er auf die Beute verzichten.

Er stand am Rand der schroffen Steilwand, die an die zehn Mannslängen tief sein mochte und von Farn und Moos überwuchert war, und blickte hinab, den Bogen noch in der Linken und innerlich bebend vom Jagdeifer, der ihn ergriffen hatte.

Auf dem Grund der Schlucht, unweit des schmalen Wasserlaufs, der sie plätschernd durchfloss, lag der Hirsch. Der Pfeil war beim Aufprall abgebrochen, und der Kopf des Tieres war in grotesker Überstreckung nach hinten gebogen. Ansonsten war der Kadaver jedoch unversehrt – und ganz sicher zu schade, um ihn dort unten verrotten zu lassen. Zumal Osbert Geweih und Fell des Tieres Guillaume versprochen hatte.

Fieberhaft suchten die Augen des Jägers die Felswand ab. Es gab nur eine Reihe schmaler Vorsprünge, die ihm als Tritte dienen konnten. Da es geregnet hatte, war das Gestein glitschig, ebenso wie das Moos, das es an vielen Stellen bedeckte. Er würde sich also vorsehen müssen – oder der arme Guillaume würde an diesem regnerischen Oktobertag mehr als nur eine herbe Enttäuschung erleben.

Ein verwegenes Grinsen zeigte sich in Osbert de Reins glatt rasiertem Gesicht, als er zurück zu seinem Pferd ging und den Strick holte, der am hölzernen Sattelknauf des Tieres hing und den er eigentlich mitgebracht hatte, um seiner Beute die Läufe zusammenzuknoten und sie sicher auf sein Reittier zu packen. Damit musste er sich nun wohl noch gedulden – zunächst einmal galt es, den Hirsch vom Grund der Schlucht zu bergen.

Mit geschultem Blick wählte Osbert einen Baum aus, schlang das eine Ende des Stricks herum und verknotete es. Dann trat er wieder an die Steilwand und ließ sich langsam hinab, indem er den Hanf mit den ledernen Handschuhen umfasste. Dabei kam ihm in den Sinn, wie viel einfacher es gewesen wäre, wenn Guillaume ihn auf der Jagd hätte begleiten dürfen. Den Jungen am Seil hinabzulassen hätte kaum eine Schwierigkeit dargestellt, und Guillaume, der Osberts Begeisterung für die Jagd teilte und darin einiges Geschick besaß, hätte sicher keine Probleme gehabt, die Beute sachgemäß zu verschnüren und sie so zu befestigen, dass Osbert sie mühelos hinaufziehen konnte. Doch sein Bruder hatte anders entschieden, und damit musste Osbert wohl oder übel leben.

Seine Stiefel suchten nach Halt und fanden ihn. Vorsichtig ließ er sich weiter hinab, wobei er das Gewicht seines Körpers gegen die Felswand stemmte.

Plötzlich drangen von oben Geräusche zu Osbert. Pferdeschnauben und das dumpfe Stampfen von Hufen waren deutlich gegen das Plätschern aus der Tiefe auszumachen.

»Wer …?«, rief Osbert hinauf, als über der Steilwandkante ein vertrautes Gesicht erschien.

»Du?«, fragte er verwundert.

Eine Antwort erhielt er nicht, dafür weiteten sich seine Augen, als plötzlich eine Hand erschien, die eine blitzende Klinge hielt.

»Was hast du …?«

Osbert de Rein sprach den Satz nie zu Ende. Der Dolch durchtrennte den gespannten Strick mit einem Streich, und mit einem gellenden Schrei stürzte der Jäger in die Tiefe.

Jerusalem
15. Juli 1099

Die Zeit schien stillzustehen.

Es...