Die Kunst der Freiheit - Voytek Kurtyka - Leben und Berge

von: Bernadette McDonald

AS Verlag, 2019

ISBN: 9783039130061 , 400 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 20,99 EUR

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Die Kunst der Freiheit - Voytek Kurtyka - Leben und Berge


 

Einleitung


Berge sind keine Stadien, in denen ich meinen Ehrgeiz befriedige. Sie sind Kathedralen, riesig und rein, die Gebäude meiner Religion.

Anatoli Boukreev, G. Weston DeWalt, Über den Wolken

Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein.

Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt

Voytek Kurtyka stand früh auf. Er machte sich einen Kaffee und ging zum Fenster hinüber, um zu beobachten, wie der Morgenhimmel zum Leben erwachte. Als die zarten Pastelltöne in ein perlmuttfarbenes Hellgelb übergingen, trat er an seinen Schreibtisch. Wie üblich gab es E-Mails von Lieferanten und ein paar Probleme mit der polnischen Zollbehörde. Damit würde er sich später herumschlagen müssen. Zudem fanden sich ein paar Anfragen von Kletterern bezüglich Informationen über Routen – und eine unerwartete Nachricht von einem gewissen Christian Trommsdorff: «Wir möchten Sie einladen, als Mitglied der Jury an der Verleihung des Piolet d’Or vom 22. bis 25. April 2009 in Chamonix teilzunehmen.»

Der auch als «Oscar des Bergsteigens» bezeichnete Piolet d’Or («Goldener Eispickel») wird jährlich für die kühnsten und innovativsten alpinen Besteigungen oder für ein Lebenswerk im Bereich des Alpinismus vergeben. Christian Trommsdorff, Bergführer in Chamonix und Vorsitzender des Veranstaltungskomitees, äußerte den Wunsch, dass Voytek – einer der angesehensten Alpinisten aller Zeiten – bei der Auswahl der besten alpinen Leistungen mitwirken sollte. Er hätte sich wohl nicht träumen lassen, wie Voyteks Antwort ausfallen sollte:

Herzlichen Dank für Ihre Einladung zur Jury des Piolet d’Or. Es tut mir leid, dass ich daran nicht teilnehmen kann … Ich weiß, dass unsere Welt ein monströses System wilder Wettbewerbe ist und folglich auch aus Preisen und Ehrungen besteht. Aber dieses System ist ein Feind der wahren Kunst. Wo Preise und Ehrungen regieren, endet die wahre Kunst. Ich glaube aus tiefstem Herzen, dass das Klettern den Kletterer zu körperlichem und geistigem Wohlbefinden, ja zu Weisheit erheben kann, dass aber Preise und Ehrungen den Kletterer zu Eitelkeit und Egozentrik verführen. An diesem Spiel teilzunehmen … ist für den Kletterer gefährlich. Ich bin zur Teilnahme daran nicht bereit und kann Ihr Angebot daher nicht annehmen.

Abgesehen von seinem geradezu philosophischen Unbehagen angesichts des «Spiels» war Voytek vor allem beunruhigt darüber, dass Bergbesteigungen ein Ranking in einem, wie er es nannte, «monströsen» Wettbewerb erfuhren. Wie konnte man etwa die vom französischen Alpinisten Pierre Béghin durchgeführte Überschreitung des Makalu mit der 40-tägigen Solobesteigung des Trango Towers durch den japanischen Kletterer Takeyasu Minamiura vergleichen? Oder Krzysztof Wielickis Winterbesteigung des Everest mit der Blitzbesteigung desselben Berges durch die Schweizer Erhard Loretan und Jean Troillet? Es war doch absurd, den Pioniergeist Reinhold Messners gegen das übermenschliche Durchhaltevermögen Jerzy Kukuczkas aufzuwiegen. Gemäß Voytek machte dieses Spiel genauso wenig Sinn wie die Frage, ob Sex oder Weihnachten besser sei.

Seiner Ansicht nach war der Alpinismus viel zu komplex für Einstufungen und Vergleiche. In ihm lagen so viele grundverschiedene Aspekte: die Ästhetik, die körperliche Leistung, die metaphysische und die logistische Dimension, die Intuition. Und es war so viel Leid zu ertragen. Wie konnte man die Leiden der Alpinisten miteinander vergleichen? «Der Druck der Medien, für ihre eigenen Zwecke einen alpinistischen Superstar zu kreieren, ist der Versuch, den Alpinismus auf eine Dimension zu reduzieren», hielt er in seinem Antwortschreiben an Trommsdorff fest. «Und das ist eine Entwürdigung des Kletterns.»

Christian Trommsdorff lacht, wenn er sich an diese scharf formulierte E-Mail erinnert. Doch er ließ sich nicht entmutigen. Im folgenden Jahr schrieb er einen noch kühneren Brief an Voytek. Diesmal schlug er ihm vor, den «Piolet d’Or für das alpinistische Lebenswerk» selbst anzunehmen. Voytek antwortete wie erwartet:

Hallo Christian,
das ist ein teuflisches Angebot. Ich hatte immer das Gefühl, vor dem Schwachsinn des täglichen Social life in die Berge flüchten zu müssen. Und nun schlagen Sie mir vor, genau an diesem teilzunehmen! Ich bin in die Berge geflohen, um den Beweis dafür zu erbringen, dass ich von den sozialen Zwängen rund um Preise und Ehrungen frei bin – und nun bieten Sie mir genau solche an! Ich bin in die Bergen gegangen in der großen Erwartung, über meine menschlichen Schwächen hinauswachsen zu können. Und nun versuchen Sie, mir die gefährlichste von diesen anzudrehen: die Illusion, dass ich eine herausragende Person sei. Mein ganzes Leben ist ein Kampf gegen eben diese Illusion. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass der Wunsch nach Auszeichnungen und Ehre der größte Fallstrick unseres Egos und der Beweis unserer Eitelkeit ist. Es tut mir leid, dass ich daran nicht teilnehmen kann. Ich kann den Piolet d’Or nicht annehmen. Ehrlich gesagt, bin ich im tiefsten Herzen aber auch sehr beunruhigt darüber, was mich dazu treibt, die Auszeichnung abzulehnen. Unglücklicherweise auch nur Eitelkeit! Versuchen Sie gar nicht, mich zu ehren! Alpinisten haben ein außergewöhnliches Bewusstsein für Freiheit, und ich hoffe, Sie verstehen mein Unbehagen angesichts einer solch großen Ehre.

Es sind indes nicht nur Kletterer, die ein solches Unbehagen verspüren. Poeten ergeht es ganz ähnlich. Leonard Cohen erklärte einst seine Zurückhaltung, einen kanadischen Preis für sein Lebenswerk anzunehmen, mit den folgenden Worten: «Einer der Gründe, warum man diese Dinge vermeiden möchte, ist, dass sie wirklich tiefe Emotionen auslösen … Es kommt bei einem Künstler oder Schriftsteller nur sehr selten vor, dass man sich mit der uneingeschränkten Akzeptanz des eigenen Werkes konfrontiert sieht.» Cohen nahm die Auszeichnung letztlich an. Dem Publikum bei der Preisverleihung sagte er: «Wir schlurfen hinter unseren Songs her in die Ruhmeshalle.»1

Christian Trommsdorff aber war niemand, der schnell nachgab. Und vielleicht spielte Voytek nur den Schüchternen? Es war noch einen weiteren Versuch wert. 2010 schrieb Christian nochmals einen Brief und bot Voytek erneut den Preis für das Lebenswerk an. Voytek war verwirrt. Hatte er sich nicht klar genug ausgedrückt? In seinem Antwortschreiben versuchte er, noch deutlicher zu sein:

Lieber Christian,
du meine Güte, dieses Angebot kann ich auf gar keinen Fall annehmen! Ich müsste komplett gegen meine innerste Überzeugung handeln … Ich gebe zu, dass ich die Freundlichkeit und Liebe der Menschen durchaus schätze, aber ihre Bewunderung fürchte ich sehr. Ich gestehe in aller Bescheidenheit, dass ich mich wie ein Pfau aufplustere, wenn ich bewundert werde, und genau aus diesem Grunde kann ich keine Preise annehmen … Solche Auszeichnungen grenzen an Blasphemie. Würden Sie einen Eremiten für seine jahrelange spirituelle Praxis öffentlich auszeichnen? Wir Alpinisten sind zwar keine Eremiten, aber unsere Erlebnisse grenzen manchmal an eine Art Erleuchtung, die unser Leben zutiefst prägt … Ich möchte diese kostbaren Momente unberührt belassen. Ich kann sie nicht gegen öffentliche Ehren eintauschen … Christian, ich bin Ihnen für Ihr Angebot ehrlich dankbar und gleichzeitig schäme ich mich, weil ich es nicht annehmen kann.
In Freundschaft,
Voy

Was Voytek nicht wusste, war, dass Christian in seinem hartnäckigen Bemühen, ihm den Piolet d’Or zu verleihen, nicht alleine dastand. Die angesehensten Alpinisten auf der ganzen Welt wunderten sich bereits, dass Voytek diese Anerkennung noch nicht erhalten hatte, und sie drängten das Piolet-Komitee, dies endlich zu ändern. 2012 schrieb Christian einen weiteren Brief, in dem er Voytek den Preis nochmals anbot. Dieser verlor nun langsam die Geduld:

Lieber Christian,
es tut mir leid. Nein, und nochmals nein! Ich will über den Piolet d’Or kein Wort mehr verlieren. Meine Gründe dafür habe ich dargelegt.
Machen Sie mich nicht zum Narren …
Voy

Wie kann jemand das größte Zeichen von Anerkennung seiner eigenen Kollegen – in diesem Fall der anderen Spitzenalpinisten – ablehnen? Schließlich wird die Vergabe des Piolet d’Or für das alpinistische Lebenswerk ja nicht von Filmproduzenten, Politikern oder Vorsitzenden von Alpenvereinen entschieden. Es ist eine Anerkennung von Alpinisten für Alpinisten. Und doch lehnte Voytek den Preis ab, mit der Begründung, dass er die Fallstricke der öffentlichen Bewunderung fürchte. Sein Verhalten erscheint in gleichem Maß bewundernswert wie unhöflich. In jedem Fall war es rätselhaft, denn man kann sich kaum einen würdigeren Empfänger für diese Auszeichnung vorstellen als ihn.

Voytek Kurtyka gab in den 1970er Jahren dem Himalaja-Bergsteigen eine neue Richtung, indem er bewies, dass es möglich war, schwierige Routen an den höchsten Bergen der Welt mit kleinen Teams zu bezwingen. Die Liste seiner Erfolge umfasst elf große Wände im Hindukusch, Himalaja und Karakorum. Bei sechs von ihnen handelt es sich um Wände von Achttausendern.

Bereits bei seinem ersten Kontakt mit dem Fels, vielleicht schon beim erstmaligen Erblicken eines Berges, entwickelte Voytek eine ganz eigenwillige Art und Weise des Bergsteigens. Zu einer Zeit, in der die meisten Himalaja-Bergsteiger die Berge im traditionellen Expeditionsstil anpackten, bestieg er sie im Alpinstil – «entfesselt», wie er es nannte. Als der Alpinstil im Höhenbergsteigen dann zur Norm...