Sturmzeit - Wilde Lupinen - Roman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2018

ISBN: 9783641229627 , 704 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Sturmzeit - Wilde Lupinen - Roman


 

1

Es war im Mai, und die Rapsfelder blühten. Hellgrünes Laub leuchtete in der Sonne. Auf den Wiesen wucherten Klee und Löwenzahn, und der Wind trug einen leisen Salzgeruch ins Land. Flimmernd fielen die Sonnenstrahlen des Frühsommerabends durch die Blätter der Eichen, die die Auffahrt zu Lulinn säumten. Am Ende der Allee konnte man das Gutshaus erkennen, efeubewachsen und verwittert. Entlang der Auffahrt grasten Pferde, Trakehner, zwei von ihnen galoppierten quer über die Koppel hintereinanderher. Ein anderes stand aufrecht, mit hocherhobenem Kopf, am Zaun und wieherte laut.

Obwohl sie fast das ganze Jahr über in Berlin lebte, wäre Belle Lombard nie auf die Idee gekommen, etwas anderes als Lulinn als Heimat zu bezeichnen.

»Ich komme aus Ostpreußen«, pflegte sie zu sagen, wenn man sie nach ihrem Zuhause fragte, und erklärend setzte sie hinzu: »Von Lulinn. Ein Gut, schon seit drei Jahrhunderten im Besitz meiner Familie. Es liegt nahe bei Insterburg … also nicht mehr weit von der litauischen Grenze.«

Sie musste die Worte »Lulinn« und »Insterburg« nur aussprechen, und es wurde ihr so sehnsüchtig zumute, dass sie meinte, Berlin keine Sekunde länger ertragen zu können. Natürlich, sie hing an dieser Stadt, sie lebte dort, arbeitete dort, hatte eine Menge Freunde, aber Lulinn … das war etwas ganz anderes. Lulinn – das waren im Sommer Kornfelder, so weit das Auge reichte, und im Winter dicke, aufgeplusterte Schneehauben auf den Weidezäunen, das waren Schwarzbeeren im Herbst und der Geruch von Laub und Pilzen, das waren als erste Frühlingsboten die Wildgänse am Himmel, die aus dem Süden zurückkehrten. Lulinn – mächtige Eichen und wilde Lupinen, blaugrau die Schatten der Wälder am Horizont, schwer der Duft von Jasmin im Wind und der von frischem Kümmelbrot aus der Küche im Souterrain. Der farbenprächtige Rosengarten vor dem Portal, das Klappern der Holzschuhe, wenn die Knechte und Mägde in aller Herrgottsfrühe die Arbeit auf dem Hof begannen, das Rauschen des Laubes von den Obstbäumen im Garten und die herrlichen, schneeweißen Federbetten, die immer so gut rochen, weil Jadzia, die polnische Haushälterin, die Leinenbezüge nach dem Waschen draußen trocknen ließ und sich der Duft von frischem Heu, von Blumen und Kräutern in ihnen fing.

Auf Lulinn war die Zeit irgendwann stehengeblieben und hatte sich dann einen bedächtigen Lauf angewöhnt, und Belle dachte, es sei das unwandelbare Gleichmaß aller Dinge, was dem Gut seinen Zauber gab. Draußen zeigte sich die Welt abwechselnd gleichgültig, böse oder sogar grausam, aber auf Lulinn gab es Beständigkeit, und wenn man seine Mauern nach ein paar Tagen wieder verließ, fühlte man sich gegen alles gewappnet, was das Leben an Misshelligkeiten bereithalten mochte.

Alles wird gut, dachte Belle auch diesmal, als der blank geputzte, schokoladenbraune Armstrong Siddeley ihrer Tante die Eichenallee entlangfuhr. Wie schwer der Flieder roch! Sie wandte den Kopf und betrachtete die Frau, die am Steuer saß. Tante Modeste, die sie am Bahnhof in Insterburg abgeholt hatte und seitdem ununterbrochen darüber jammerte, wie viel Zeit sie dieses Unternehmen kostete. »Als ob man nichts Besseres zu tun hätte«, knurrte sie auch jetzt.

Wie kann man nur so missmutig sein, wenn man das Glück hat, das ganze Jahr auf Lulinn leben zu dürfen, fragte sich Belle im Stillen. Sie und Modeste hatten einander nie leiden können. Modeste fand, Belle sei vorlaut und frech und habe die unglückliche Neigung, sich in jeder Lebenslage danebenzubenehmen. Umgekehrt hielt Belle Modeste für falsch und heimtückisch und unerträglich rechthaberisch. Modeste hatte vor acht Jahren geheiratet, einen kleinen, schmächtigen Mann, Kaufmannssohn aus Insterburg, der vollkommen unter ihrer Fuchtel stand und sich für eine Art Missionar hielt; auf eine nervtötend salbadernde Art fragte er jeden Bewohner Lulinns ständig nach seinen geheimsten Problemen aus, wobei er selbst vor den allerintimsten Fragen nicht zurückschreckte. Nachher plauderte er, auch im größeren Kreis, aus, was er erfahren hatte. Immerhin – man traute es ihm nicht zu, wenn man ihn in seiner trostlosen Magerkeit sah – hatte er in den acht Jahren seiner Ehe schon vier Kinder gezeugt, mit dem vierten war Modeste nun schwanger. Sie machte viel Aufhebens darum, keuchte und klagte. Aber wahrscheinlich, dachte Belle in einem Anflug von Mitleid, hat sie es wirklich nicht leicht damit. Sie ist so dick wie ein Hefekloß!

»Es ist heiß wie im Hochsommer«, stöhnte Modeste und wischte sich den Schweiß aus dem geröteten Gesicht. »Man hält es kaum aus. Besonders in meinem Zustand!«

»Warum trägst du auch ein schwarzes Kleid, Tante Modeste? Das macht es nur schlimmer!«

Sofort verwandelte sich Modeste in die verkörperte Empörung.

»Du hast vergessen, dass ich in Trauer bin! Aber natürlich, du hast meine Eltern ja nie gemocht!«

Modestes Eltern waren beide kurz nacheinander gestorben, und Belle konnte tatsächlich nicht behaupten, dass es sie außerordentlich geschmerzt hätte – obwohl es einen immer erschreckt, wenn Menschen sterben, die man gut gekannt hat, selbst wenn sie so sauertöpfisch waren, wie die alte Tante Gertrud oder ein Erznazi wie ihr Mann Victor. Modeste aber hatte es tief getroffen. Sie fügte hinzu: »Meiner armen Mutter hast du sogar regelrecht das Leben schwergemacht! Immerzu widersprochen …«

»Ach Modeste! Ich war ein Kind, und ich hatte meine Trotzphase wie alle Kinder! Das brauchte doch keiner ernst zu nehmen!«

Modeste betrachtete beinahe hasserfüllt das Gesicht der jungen Frau. Diese vollkommen reine, weiße Haut, dachte sie, und wieso glänzt ihr Haar so? Wie schön sie ist und wie jung!

»Alles hing an meiner Mutter«, fuhr sie fort, »denn deine hat sich ja fast nie blicken lassen. Geht ihren eigenen Weg, die gnädige Frau, und lässt andere die Arbeit tun! Schöne Moral!«

Belles Augen wurden schmal. »Lass Mama aus dem Spiel! Sie tut mehr für uns alle, als irgendjemand sonst!«

»Jaja …«, murmelte Modeste unbestimmt. Der Wagen war vor dem Portal angekommen, Modeste trat auf die Bremse. Sie stöhnte schon im Voraus, denn sie wusste, wie schwer es ihr fallen würde, ihren massigen Leib aus dem Auto zu wuchten. »Dir wird es auch bald nicht anders gehen«, prophezeite sie finster und wies auf ihren Bauch.

»Möglich«, entgegnete Belle ruhig und entschlossen, sich nicht über Modeste zu ärgern. Sie war auf Lulinn, und sie war glücklich. Es war der 20. Mai 1938. Belle Lombard war nach Lulinn gekommen, um dort zu heiraten.

Joseph Blatt, Modestes Mann, kam den beiden Frauen entgegen. Er sah noch dünner und bleicher aus als sonst. Wie üblich konnte er seinen langen Hals nicht beherrschen und nickte bei jedem Schritt mit dem Kopf wie ein Huhn.

»Meine liebe Belle!«, rief er überschwänglich und drückte sie an sich. Dann hielt er sie ein Stück von sich weg und zwinkerte ihr vertraulich zu. »Na, wie fühlt sich die junge Braut? Bisschen nervös, wie? Alles in Ordnung? Oder möchtest du dich aussprechen?« Offensichtlich brannte er darauf, ihr vor dem Schritt ins Unbekannte noch ein paar Tipps zu geben, aber dazu wollte es Belle keinesfalls kommen lassen. »Mir geht es wunderbar, Onkel Joseph«, sagte sie munter.

Er schien enttäuscht. »So? Aha … ich habe dich übrigens neulich in ›Das unsterbliche Herz‹ gesehen. Lief in Insterburg im Kino. Du hast sehr hübsch ausgesehen.«

»Ich habe dich nicht entdecken können«, kam es sofort von Modeste. »Du hattest wohl eine sehr kleine Rolle! Die Söderbaum war jedoch hervorragend!«

Belle zuckte mit den Schultern. Sie war seit zwei Jahren bei der UFA und kam noch nicht über die Statistenrollen hinaus, aber das hatte sie einkalkuliert, als sie beschloss, Schauspielerin zu werden. Sie überhörte Modestes Spitze und fragte: »Wer ist schon von der Familie da?«

»Fast alle!« Joseph lächelte fröhlich. Er liebte die Rolle des Gastgebers, der seine weitläufige Verwandtschaft mit offenen Armen empfängt. »Dein Onkel Jo ist gestern gekommen, mit Linda und Paul. Und Sergej und Nicola sind da. Sie haben Anastasia mitgebracht.«

Jo, Johannes Degnelly, war der Bruder von Belles Mutter. Er lebte als Rechtsanwalt in Berlin und war für Belle immer eine Art Vaterersatz gewesen. Sie hing an dem grauhaarigen Herrn mit den melancholischen Augen und dem grüblerischen Wesen. Sie mochte auch seine Frau Linda, obwohl die, selbst mit zweiundvierzig Jahren noch, das naive kulleräugige Püppchen spielte, das sie schon als junges Mädchen gewesen war. Am meisten aber mochte sie Paul, den Sohn der beiden. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, drei Jahre älter als sie, ein ruhiger, etwas verträumter Mann mit einer merkwürdigen Leidenschaft für Autos und Motoren. In Belle weckte er Muttergefühle und Beschützerinstinkte. Als Kinder hatten sie beschlossen, später zu heiraten, und inzwischen waren sie die besten Freunde.

In der Tür begegnete Belle ihrer Großcousine Nicola, einer schönen Frau mit etwas verdrossenen Gesichtszügen. Nicola war als Kind vor der Revolution aus Petrograd geflohen, hatte dabei ihre Eltern verloren und sich später als junge Frau mit verbissener Liebe an den ebenso charmanten wie leichtsinnigen Exilrussen Sergej Rodrow geklammert, der schließlich tatsächlich mit ihr zum Traualtar marschiert war, seitdem aber nie einen Zweifel daran ließ, dass er sie im Grunde für ihre Anhänglichkeit verachtete. Beruflich kam Sergej nicht mehr so recht auf die Füße. Er hatte einst in einem Berliner Immobilienbüro eine Menge Geld verdient, aber nachdem sein Arbeitgeber am Schwarzen Freitag 1929 in die...