Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell - Darstellung und Dokumentation

von: Cora van der Kooij

Hogrefe AG, 2017

ISBN: 9783456956268 , 224 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,99 EUR

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Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell - Darstellung und Dokumentation


 

1 Das mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell (S. 19-20)

1.1 Mäeutik ist Hebammenkunst

Pflegekräfte sind daran gewöhnt, den ganzen Tag hindurch immer wieder auf Situationen zu reagieren. Sie fragen sich, was zu sagen und wie zu handeln ist, und fühlen sich zufrieden, wenn der Bewohner beruhigt oder gut gelaunt zurückbleibt. Fragt man sie hinterher, was sie gesagt und getan oder eben ungetan und ungesagt gelassen haben, dann zucken sie die Achseln. Sie machen vieles unbewusst, „aus dem Bauch heraus“, wie sie es ausdrücken. Sie sind nicht gewohnt, all diese Situationen und Momente zu reflektieren. Wer fragt sie danach? Und weshalb sollte jemand sie danach fragen? Was würden die Fragen nutzen? Mäeutik definiere ich als „Hebammenkunst für das Pflegetalent“. Die Begriffe Mäeutik (Hebammenkunst) und mäeutisch (erlösend oder befreiend) leiten sich von der Methode ab, die Sokrates im Gespräch mit seinen Schülern anwandte(Hallwirth-Spörk, 2005). Pflegende brauchen Begriffe, mit denen sie ihre intuitiven Fähigkeiten in Worte fassen können, und eine gemeinsame Sprache, die ihren Erfahrungsbereich öffnet. Mäeutik in der Pflege steht für einen Prozess des Bewusstwerdens. Es gilt, die bewusste Pflegequalität und deren Ergebnisse für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu „erlösen“ (vgl. McCormack, 2004).

1.2 Pflegekenntnisse und Professionalität

Mäeutik ist jedoch keine Reduktion von Pflegesachverstand auf die Intuition. Es verhält sich eher umgekehrt. Das Handeln von Pflegenden ist auf ihr eigenes, individuelles Pflegetalent in Kombination mit (oft) unbewusster Kompetenz und integrierter Erfahrung zurückzuführen. Mäeutik soll eine Entdeckungsreise in den Erfahrungsbereich von Pflegenden sein, eine Suche nach ihren Überlegungen während der individuellen Pflege und Betreuung von Bewohnern oder Patienten. Das Ziel ist, eine Sprache zu entwickeln, damit die Pflegenden ihre Entscheidungen und Erfahrungen in Worte fassen können. Diese Sprache und die dazugehörigen Begriff1lichkeiten brauchen sie, damit sie miteinander – im Team – ihre Einfälle, Erfahrungen, Gedanken und Ideen austauschen können. Nur dann ist es möglich, sich von allzu individuellen Ansichten, Normen und Werten zu befreien (oder befreien zu lassen) und eine gemeinsam getragene Handlungs- oder Herangehensweise zu entwickeln. Bei diesem Austausch sind das schon vorhandene Pflegewissen und womöglich sogar Kenntnisse aus der Pflegewissenschaft eine Quelle. Das heißt jedoch nicht, dass Pflegekräfte sich fügsam und demütig an die gemeinsam formulierten Herangehensweisen oder an die „Wissenschaft“ wie an bindende Vorschriften halten müssten. Nach eigener Beurteilung der Situation handeln sie immer wieder individuell und lassen sich dabei von der jeweils bewusst gewordenen Kompetenz leiten.

Bewusste Kompetenz oder Professionalität heißt „das Vermögen, authentisch und kreativ zu beobachten, darauf zu reagieren und wenn nötig zu handeln, und dieses Verhalten anschließend in Worte fassen und begründen zu können“ (van der Kooij, 2003a; van der Kooij, Meyenburg, 2003b; van der Kooij, 2007). Nicht nur Psychologen, Ärzte und Sozialarbeiter sind in diesem Sinne professionell, auch Pflegekräfte sind es. Voraussetzung dafür ist, dass sie reflektiert handeln und sprachlich einen Zugang zu ihren eigenen und spezifischen Fachkenntnissen und Fertigkeiten haben.