Heimaterde - Eine Weltreise durch Deutschland

von: Lucas Vogelsang

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841212931 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Heimaterde - Eine Weltreise durch Deutschland


 

Ein deutsches Eck
Berlin-Wedding


Unten im zweiten Stock wohnt Gisela Kullack, mit Blick auf die Straße. Vor ihrem Fenster, 1,10 Meter mal 1 Meter, weiß gerahmt, hängen noch die Gardinen, die sie zu ihrem Einzug hat anfertigen lassen. Auf dem Fensterbrett stehen drei Kakteen, selbst gezüchtet. Gisela Kullack ist 82 Jahre alt und in ihrem Leben erst einmal umgezogen. Sie hat nie in einer anderen Stadt gewohnt, in ihrem Personalausweis standen nur zwei Adressen. Perleberger Straße. Berlin-Moabit. Und Schönwalder Straße. Berlin-Wedding. Und doch hat sie, Erstmieterin seit dem 10. Oktober 1974, von diesem Fenster aus, über ihre Kakteen hinweg, die Welt gesehen. Die Welt, sie ist zur ihr gekommen. Plötzlich, watt willste machen, war sie einfach da, standen unten die Umzugswagen, die immer neue Biographien vor ihrem Haus abluden, in Kisten verpackt, sauber gestapelt, zerbrechlich.

Nach und nach, immer mehr. An die Reihenfolge, den Ablauf der Ankünfte, kann sich Gisela Kullack genau erinnern, sie vergisst nichts und schreibt sich dazu auch all jenes auf, das sie vielleicht doch vergessen könnte. Kontrolle und Vertrauen. Deshalb liegen da, immer griffbereit neben dem Telefon mit der Wählscheibe, ein Notizblock und ein Kugelschreiber, lottogelb.

Zuerst also kamen da die Besatzungssoldaten mit ihren Familien, Mitte der Siebziger-Jahre, die nur blieben, bis ihre neuen Wohnungen am Stadtrand fertiggestellt waren. Die Franzosen, die viele Kinder hatten und für die Deutschen hier die Ausländer waren, Fremde. Dann zogen die Türken in den Block, die Kinder der Gastarbeiter, die längst selbst Familien gegründet hatten, die zweite Generation. Auch sie kamen mit vielen Kindern, auch sie waren Ausländer, Fremde. Und schließlich kamen all die anderen. Die Palästinenser, die Ägypter, die Polen. Zuletzt dann die aus dem Ostblock, Bulgaren und Rumänen, die für die Türken hier Ausländer sind, Fremde.

Gisela Kullack ist immer noch da, eine alte Weddinger Pflanze. Die topft man nicht um. Sie, seit bald zwei Jahren Witwe, hat hier gelebt und sie wird hier auch sterben. Und wenn das Wetter es zulässt, stellt sie sich auf ihren Balkon und schaut auf die Straße, hinein in die Ecke, die ihr manchmal ganz ungeheuerlich vorkommt, so viele neue Gesichter, die Gerüche auch, die mittags die Fassade herunterkriechen, wie die Einladung zu einem exotischen Mahl. Dann dampft es und über ihr kocht eine Suppe, darin Kräuter aus wirklich fernen Ländern. An guten Tagen kann Gisela Kullack ihre Nase in die Welt halten, an schlechten riecht sie den Müll, der rechts von ihr in einem Abfallkäfig in der Hitze schwitzt. Was die Leute so wegwerfen. In diese vielen Tonnen. Früher war das einfacher hier im Wedding, da gab es eine Tonne und eine Sprache. Aber daran kann sich außer Gisela Kullack niemand mehr erinnern.

Wenn man nun bei ihr klingelt, einfach so, dann macht sie auch einfach so die Tür auf, und es steht schon der Kaffee heiß in der Maschine, als hätte sie Gäste erwartet. Im Wedding rechnet man mit allem. Sie sagt natürlich Kaffe, serviert Kuchen dazu. Meist liegt dann noch ein halb ausgefülltes Kreuzworträtsel auf ihrem Tisch, daneben die Medikamente, im Hintergrund läuft der Fernseher, mit dem sie die Einsamkeit vertreibt. Gisela Kullack ist eine ganz ausgezeichnete Gastgeberin und außerdem ist sie, schon ihrer Erfahrung wegen, die Seele des Hauses. Jeder kennt sie. Die einen als Frau Kullack, respektvoll. Die anderen als Omma ausm Zweiten, weniger respektvoll. Man kann es sich nicht aussuchen. Frau Kullack jedenfalls gießt Kaffe ein und legt das Kreuzworträtsel beiseite, richtet die Brille, und dann erzählt sie ein bisschen vom Wedding, schaut dabei aus dem Fenster, wie sie es seit mehr als 40 Jahren schon macht, Tor zur Welt. Zeitraffergeschichten.

Sie hat von diesem Fenster aus die Kinder der Nachbarn aufwachsen sehen. Kinder wie Can, jetzt 17 Jahre alt, der an jedem Morgen, noch bevor Frau Kullack raus zum Bäcker geht, mit seinem Hund die eine Runde dreht, die Pflicht ist. Danach packt er seinen Rucksack und geht zur Schule, am Abend kommt er vom Sport, Thaiboxen, er ist in seiner Klasse deutscher Meister, und trägt die Tasche so lässig über der Schulter, wie man das eben macht, wenn hinten am Horizont gerade erst die Volljährigkeit winkt, in den Gesten noch immer die Last, sich beweisen zu müssen. Ein halbes Kind, ein Mann bald, dessen Körper vom Erwachsenwerden schon in die Länge gezogen wurde, in den Zügen eine Ahnung. Er, die Haare an den Seiten kurz rasiert, an flinken Füßen bunte Sneaker, über den schon breiten Schultern einen dunklen Kapuzenpullover, ist, so sagen es die Leute im Viertel, so sagt es auch Frau Kullack, ein guter Junge.

Im Aufzug, wenn er von der Schule kommt und sie ihn nach den Noten fragt, antwortet er höflich. Hin und wieder, an den guten Tagen, hilft er ihr mit dem Einkauf, sie steckt ihm dafür einen Fünfer zu, für Eis, für die Geschwister, wie sie es immer getan hat. Früher, da gab es für die Jungs hier ein Fünfmarkstück, einen Heiermann, in Kinderhänden so unglaublich viel Wert. Zu einer Zeit war das, als der passende Schein dazu, der grüne Lappen, noch Spandau-Dollar hieß, weshalb der im Wedding gleich weniger wert war. Heute aber muss auch Frau Kullack in Euro zahlen und da sind die Kinder von heute, wenn man richtig umrechnet, gleich doppelt so teuer wie die Kinder von damals. Inflation, macht auch vor dem Wedding nicht halt. Ist so, Schluck Kaffe.

Die Kinder haben sich ja auch verändert, waren mal die Töchter und Söhne der Deutschen gegenüber und sind jetzt die Kinder jener Nachbarn, die im Aufzug, im Hausflur, erst eine andere Sprache sprechen und sie dann doch freundlich grüßen. Wie die Deutschen früher. Guten Tag, Frau Kullack.

So ist das doch im Wedding, sagt Can, unten auf der Straße jetzt. Auf den Treppen vor dem Haus. Der Hund schläft oben im siebten Stock. Den könnte man, wenn man jetzt ganz leise wäre, auch hier unten schnarchen hören, ein irres Vieh. Löwenhund aus Afrika, man muss sich den Wedding dann als Savanne vorstellen.

Can also sitzt vor dem Haus und die Nachbarn kommen vorbei und er grüßt so in den Reigen, manchmal ein Nicken, anderen gibt er die Hand, wenige bekommen eine Umarmung. Aber niemand geht ohne Geste. Jeder Junge ein Bruder und jeder Alte eine Respektsperson. Nachbar oder Onkel, egal. Der Respekt, den man den Älteren entgegenbringt, ist selbstverständlich. Es gibt im Türkischen einen Ausspruch dafür, der von den Vätern kommt, ein Befehl mehr, und von den Söhnen durch das Viertel getragen wird.

Hareket yapma! Hareket bedeutet Bewegung. Hareket bedeutet Faxen machen.

Es heißt, sagt Can, dass man freundlich redet, nicht unhöflich antwortet, wenn da jemand ist, dem du Respekt schuldest. So ist das doch im Wedding. Hier bei uns im Block, sagt er, da kennt jeder jeden. Und er weiß Bescheid, wie man eben Bescheid weiß, wenn man durch die Straßen streift, über das Kopfsteinpflaster, jedes Gesicht, jeder Stein wohlbekannt. Spricht über die Gegend mit dem Stolz des Jungen von hier, Fremdenführer durch seine Heimat, er kennt keine andere.

Die Gegend, auch dafür gibt es ein Wort. Mahalle. Was aber mehr meint als nur das Viertel an sich. Mahalle ist eine Haltung, die innere Einstellung zum Ort, an dem man lebt. Mahalle bedeutet, dass niemand für sich ist, sondern einer unter vielen. Und das sollte man sich unbedingt merken.

Can kennt sich natürlich auch damit aus, mit den Redensarten und den Regeln, den offenen und den ungeschriebenen. In beiden Sprachen. Er ist Türke, halb. Er ist Deutscher, zu einem Viertel. Seine Großeltern stammen aus der Türkei, aus Dänemark, aus Deutschland. Mischmasch, sagt er. Normal hier. Dieser Mischmasch ist ein Teil dieses Viertels, er bestimmt das Gesicht und die Spannung hier, Mahalle ist Mischmasch. Wedding, Alter. Alles zusammen.

Bei uns im Viertel, Quartier Pankstraße, Berlin-Wedding, leben etwa 16000 Menschen, der Anteil der Migranten liegt bei 63 Prozent, die Arbeitslosigkeit bei 12,5, fast die Hälfte der Bewohner ist auf Transferleistungen angewiesen. Transfer, im Fußball bedeutet das immer viel Geld. Im Wedding, der auch ein Ort des Fußballs ist, bedeutet es eher wenig Geld. Die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegt hier weit über dem Berliner Durchschnitt. Wo wir im Fußball also von Talenten sprechen, ist hier immer gleich von Problemfällen die Rede. Von einer Zukunft, die schon in der Gegenwart gescheitert ist.

Die Zahlen sollen den sozialen Missstand vermessen, die Geschichten dahinter können sie nicht erzählen. Es sind Geschichten, die sich hier an allen Tagen abspielen, an den guten und an den schlechten, Frau Kullack kann sie von ihrem Balkon aus beobachten, ich kann sie von meinem Fenster aus verfolgen, ein wilder Tanz unter Bäumen, manchmal auch ganz furchtbare Apathie. Geschichten, in denen die Langeweile auf der Parkbank sitzt, die Köpfe mit Unsinn füllt, der einzigen Pflanze, die auch auf Asphalt gedeiht, mit Testosteron gedüngt. Der Block, er steht dann unbeweglich in der Landschaft wie ein Wellenbrecher, während in der Nachbarschaft die Dinge passieren, die am Abend über die Satellitenschüsseln auf dem Dach als Nachrichten ihren Weg in die Wohnzimmer finden.

Am 20. Januar 2015, einem Dienstag, durchsuchte die Polizei in den Straßen hinter dem Block die Wohnungen vermeintlicher Terroristen, Logistikzellen, die dort Anschläge geplant haben sollen. Die Beamten nahmen an diesem Morgen mehrere Männer fest, Männer mit Verbindungen zum Emir vom Wedding, der wenige Tage zuvor gefasst worden war, mit...