Bildungswege als Hindernisläufe - Zum Menschenrecht auf Bildung in Deutschland

von: Marianne Heimbach-Steins, Gerhard Kruip, Katja Neuhoff

wbv Media, 2008

ISBN: 9783763946280 , 200 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 24,90 EUR

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Bildungswege als Hindernisläufe - Zum Menschenrecht auf Bildung in Deutschland


 

Bildungsgerechtigkeit in der Einwanderungsgesellschaft (S. 62-63)

Kommentar zum Beitrag von Katja Neuhoff

Walter Lesch

Dass Kinder mit Migrationshintergrund im Schulsystem des Einwanderungslandes mit strukturellen Hürden zu rechnen haben, ist keine Besonderheit des deutschen Bildungswesens. Wer den kulturellen Kontext wechselt, ist einem verschärften Anpassungsdruck ausgesetzt. Das kann kreative Potentiale freisetzen, ist aber zunächst einmal eine zusätzliche Belastung. Wer die jeweiligen Spielregeln schulischer Sozialisation nicht schon über die Erfahrungen der Eltern vermittelt bekommt, hat in der Regel größere Orientierungsprobleme als die Gleichaltrigen, die schon durch Familie und Freunde über zuverlässige Vergleichsmöglichkeiten und Informationsquellen verfügen.

Wenn außerdem die Schule ein Spiegel einer monokulturellen und monolingualen Gesellschaft ist, kann es nicht verwundern, dass sprachliche Kompetenzen und kulturelle Sensibilitäten im schulischen Alltag sichtbar werden und die Erfolgschancen von Kindern und Jugendlichen mitbestimmen. Insofern werden wir auch nicht von der Tatsache überrascht sein, dass der Migrationshintergrund sich auf die konkrete Ausgestaltung von Bildungswegen auswirkt. Zu fragen bleibt jedoch, ob diese Auswirkungen als gerecht empfunden werden oder ob sie hinter akzeptierten normativen Zielvorgaben zurückbleiben.

1 1 Integration durch Bildung

Über mehrere Jahrzehnte war es selbstverständlich, von ausländischen Kindern und Jugendlichen Anpassungsleistungen („Assimilation") in einem für sie gewöhnungsbedürftigen Schulsystem zu fordern und sie bei der Bewältigung der dabei auftreten den Schwierigkeiten eventuell auch zu fördern. Denn die Schule sollte ja gerade die Chance bieten, ungleiche Ausgangspositionen hinsichtlich der Herkunftskultur unter den Vorzeichen eines prinzipiell egalitären Idealen verpflichteten Bildungssystems zu kompensieren. Wer im Elternhaus eine andere Sprache benutzte und mit den Herausforderungen der Zweisprachigkeit zu kämpfen hatte, sollte wenigstens im schulischen Alltag optimal im kulturellen Selbstverständnis des Einwanderungslandes beheimatet werden und sich so zum Vermittler und Grenzgänger zwischen den Kulturen entwickeln.

Soweit der theoretische Anspruch, der in die Integrationsleistungen der Schulen große Hoffnungen gesetzt hatte – nicht zuletzt als gerechter Ausgleich nicht genügend weit reichender Unterstützungen und Öffnungen im familiären Umfeld. Die Zahlen der von der OECD verantworteten internationalen Schulleistungsstudie PISA diagnostizieren eine Situation, die speziell in Deutschland von der normativen Leitvorstellung einer Integration durch Bildung weit entfernt ist. Offenkundig häufen sich bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund die strukturellen Benachteiligungen, so dass selbst in der zweiten oder dritten Einwanderergenerationen ein Ankommen in den Plausibilitäten und Erfordernissen des deutschen Bildungssystems nicht vollständig gewährleistet ist. Es gehört zu den positiven Effekten internationaler Vergleiche, eine solche Diagnose als Formulierung eines ernsten Problems akzeptieren zu müssen und das Versagen nicht einfach integrationsunwilligen Migranten aus bildungsfernen Schichten zuzuschreiben.

Irgendetwas scheint mit dem deutschen Schulsystem nicht zu stimmen, wenn es in anderen Ländern so viel besser gelingt, Chancengleichheit im Bildungswesen zu realisieren und Schulen zu effizienten Agenturen der Integration zu machen. Bevor wir uns der sozialethischen Analyse von defizitären Strukturen widmen, sei nachdrücklich betont, dass sich in den öffentlichen Reaktionen auf die PISA-Ergebnisse ein Mentalitätswandel ausdrückt, der im ungünstigsten Fall nur den Postulaten politischer Korrektheit geschuldet ist, die uns beinahe spontan dazu veranlasst, Diskriminierungen mit moralischer Empörung zu kommentieren.

Mit etwas mehr Optimismus könnten wir aber auch darauf vertrauen, dass die Realität der Einwanderungsgesellschaft definitiv in den Köpfen der meisten Deutschen angekommen ist und als eine nach Kriterien der Gerechtigkeit zu gestaltende Aufgabe wahrgenommen wird (vgl. Süssmuth 2006). Das wäre – gemessen an den ideologischen Verkrampfungen vergangener Jahrzehnte – eine erfreuliche Entwicklung. Denn sonst könnte man ja mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen, dass Schülerinnen und Schüler mit ausländischen Wurzeln im gesellschaftlichen Wettbewerb weniger erfolgreich sind, dass dies aber nun einmal zu den kaum vermeidbaren negativen Seiten von Migration überhaupt gehöre und dass folglich eine eher defensive Einwanderungspolitik zu bevorzugen sei, um gesellschaftliche Spannungen zu minimieren.