Himmelskind - Ein kleines Mädchen reist in die Ewigkeit

von: Christy Wilson Beam

SCM Hänssler im SCM-Verlag, 2016

ISBN: 9783775173216 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Himmelskind - Ein kleines Mädchen reist in die Ewigkeit


 

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Kapitel 2


Auch wenn er stolpert, wird er nicht fallen, denn der Herr hält ihn fest an der Hand. Ich habe ein langes Leben hinter mir, doch nie habe ich erlebt, dass die, die auf Gott vertrauen, vergessen wurden.

Psalm 37,24-25

Am nächsten Morgen waren wir fest entschlossen, den behandelnden Arzt davon zu überzeugen, dass es für Annabel besser wäre, wenn sie entlassen würde. Aber in Wirklichkeit war es Annabel, die ihn mit ihrem unverkennbaren neuen Lebenswillen überzeugte. Er entließ sie unter der Voraussetzung, dass wir sie gut im Auge behielten, da er sichergehen wollte, dass die neuen Medikamente bei ihr keine schlimmen Nebenwirkungen hatten. Wir erklärten uns bereit, das Wochenende in Boston zu verbringen, damit wir schnell ins Krankenhaus fahren konnten, falls irgendetwas schiefgehen sollte, auch wenn wir dadurch unsere Kreditkarten zusätzlich belasten mussten. Wir nahmen uns ein Zimmer im Hotel gleich nebenan, im Longwood Medical Hotel, und legten den Termin für eine Folgeuntersuchung bei Dr. Anees Siddiqui fest, Dr. Nurkos Kollege in Austin, um eventuell eine Änderung der Medikamente vorzunehmen.

Trotz oder vielleicht gerade wegen der schwierigen Umstände hatten wir ein wunderbares Wochenende als Familie. Tagsüber spazierten wir wie normale Touristen über den Freedom Trail, den »Freiheitspfad« mit seinen Sehenswürdigkeiten aus dem historischen Boston, besuchten das Children's Museum und sahen uns das Aquarium an. Abends bewunderten wir die spektakuläre Weihnachtsbeleuchtung, die man überall in der Stadt sehen konnte, und machten es uns mit Kissen und Decken vor dem Fernseher unseres Hotelzimmers gemütlich. Die Stadt war erfüllt von Weihnachtsliedern, Glockengeläut und fröhlicher, vorweihnachtlicher Betriebsamkeit. Die Mädchen gingen in ihrer kindlichen Weihnachtsfreude auf, denn für die drei Südstaaten-Mädchen war Boston Mitte Dezember das reinste Winter-Wunderland.

Annabel war schwach. Sie verbrachte die meiste Zeit auf den Schultern ihres Vaters und ließ sich von ihm durch die Stadt tragen. Es machte ihr Mühe, zu essen und zu trinken, aber ihre gute Laune kam zurück, ebenso wie meine. Jedes Mal, wenn wir alle aus irgendeinem Anlass losprusteten, was in unserer Familie oft passiert, erfasste mich eine tiefe Freude. Am Montagfrüh redeten Kevin und ich mit dem Arzt, aber wir wollten Annabel nicht mit zum Krankenhaus nehmen. Ihr körperlicher Zustand war nicht schlechter als sonst – sie war blass, ihr Bauch war aufgedunsen, und sie hatte die üblichen chronischen Schmerzen. In seelischer Hinsicht aber wirkte sie sehr zerbrechlich. Wir hatten den Eindruck, dass wir sie im letzten Moment vor einem emotionalen Absturz gerettet hatten, und jetzt wollten wir sie nicht wieder so nah an den Abgrund bringen. Kevin war sehr gut dazu imstande, ihre Vitalfunktionen im Auge zu behalten, und ich war bestens mit den Symptomen vertraut, die auf eine drohende Verschlechterung ihres Zustandes hingedeutet hätten. Wir beschlossen daher, sie mit nach Hause zu nehmen und sie vorerst von dem Spezialisten in Austin weiterbehandeln zu lassen. Annabels gute Freundin Angela, die als Kellnerin im Hotelrestaurant arbeitete, kam kurz vorbei, bevor wir uns am Dienstag auf den Heimweg machten. Annabel hatte ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk für sie dabei: ein aus Pfeifenputzern geflochtenes Armband.

»Das hab ich für dich gemacht, damit du mich nicht vergisst«, sagte Annabel und streifte das Armband über Angelas Handgelenk. »Lila, weil das deine Lieblingsfarbe ist, und Pink, weil das meine Lieblingsfarbe ist. Und Weiß ist für Frieden.«

Anna schlang ihre Arme um Angela und drückte sie fest. In Angelas Augen konnte ich dieselben Fragen sehen, die auch mich so bedrückten. Später schrieb sie mir in einer E-Mail: »Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich wirklich nicht, was ich sagen sollte. Warum sagte sie mir das? Wie hätte ich sie jemals vergessen können? Ich habe sie damals nicht danach gefragt. Ich hatte zu viel Angst vor ihrer Antwort.«

Ein paar Wochen nach unserer Rückkehr luden Kevins Eltern, die unsere Mädchen Gran Jan und P Paw nennen, die ganze Familie zu Weihnachten in ihr Zuhause nach Houston ein. Ich war in den Klub der Supermütter aufgenommen worden, als ich in den Clan von Gran Jan und ihrer Mutter Nonny einheiratete. Nonny ist fast 90 Jahre alt, aber sie schaltet trotzdem noch in ihren Super-Nonny-Modus, wenn ihre Familie sie braucht, was in schwierigen Situationen durchaus schon mal vorkommt. Nachdem Nonny in ihre Wohnung in Corpus Christi gezogen war, verbrachten wir immer Heiligabend und den ersten Weihnachtsfeiertag bei Gran Jan und P Paw, und Silvester feierten wir bei Nonny.

Es gibt ein altes Kirchenlied, in dem der Himmel mit einer Familienfeier verglichen wird. Und es fühlte sich tatsächlich himmlisch an, als wir an Heiligabend ankamen, einander begrüßten und umarmten. Kevins großer Bruder Eric war zusammen mit seiner Frau Melissa und ihren Kindern Braiden (mit seinen dreizehn Jahren schon ein richtig großer Junge), Brook (zehn Jahre alt und ziemlich schüchtern) und dem fünfjährigen Bennet gekommen. Als Nächstes kamen wir, und dann traf Kevins jüngere Schwester Corrie mit ihrem Mann Mark und ihren beiden Mädchen – der kleinen Landrie und dem Baby Tatum – ein. Unsere Mädels warfen gleich nach unserer Ankunft ihre Rucksäcke in die Ecke, waren innerhalb von 30 Sekunden aus der Tür und gesellten sich zu Braiden und Brooke, die bereits auf der alten Eiche im Hinterhof rumkletterten.

»Hört mal zu, Mädels«, rief ich ihnen hinterher, und als sie sich zu mir umdrehten, konnte ich mich gerade noch zurückhalten, die üblichen Warnungen auf sie abzufeuern: Seid vorsichtig! Macht langsam! Klettert nicht zu hoch!

»Mama!«, stöhnten sie alle drei gleichzeitig. Annabel verschränkte die Arme vor der Brust – sie hatte meine Gedanken gelesen.

Kevin und ich hatten sehr früh beschlossen, dass wir Annabel nie wie das arme, kranke kleine Mädchen behandeln würden. Das war sie nämlich in keinster Weise. Alle drei Mädchen waren ausgesprochene Wildfänge, Landkinder, die auf Bäume klettern, über Pfützen springen und in alten Traktorreifen über die Kuhweide rollen. Immer wieder einmal mussten wir zur örtlichen Notaufnahme, um beispielsweise einen gebrochenen Knochen richten oder eine Tetanusimpfung vornehmen zu lassen. An diesem Tag bei Gran Jan hatte ich weit weniger Angst vor einem gebrochenen Knochen oder einer Tetanusspritze, diesen ganz normalen Begleiterscheinungen eines temperamentvollen Lebenswandels, als vor Annas gedrückter Stimmung in dem Bostoner Krankenhausbett. Sie war nicht von Natur aus töricht oder leichtsinnig, sie hatte Abbie, die auf sie aufpasste, und sie hatte schon viel zu oft von irgendjemandem zu hören bekommen, dass sie auf sich aufpassen musste und dies und jenes nicht machen durfte.

»Na dann viel Spaß«, sagte ich deshalb nur.

Sie rannten davon wie drei Golden Retriever, und ich ging ins Haus, um mir einen strategisch günstigen Ort auszusuchen, von dem aus ich sie durchs Fenster beobachten konnte. Abbie war als Erste bei den Bäumen, aber Anna brauchte nicht lange, um aufzuholen. Innerhalb von Sekunden war sie hoch oben zwischen den Ästen, entschlossen, höher zu klettern und mutiger zu sein als alle anderen.

»Es wird ihnen schon nichts passieren«, bemerkte Corrie, die mir über die Schulter guckte. Noch eine Gedankenleserin. »Meine Güte, Anna ist ein richtiger kleiner Affe, was?«

»Sie hat absolut keine Angst«, entgegnete ich. »Darum muss ich mich für sie mit fürchten.«

Die ganze Kinderschar rannte bis zur Abenddämmerung wild umher, sie kletterten, hüpften, schaukelten und lachten und hatten die Äste der alten Eiche in Besitz genommen wie eine Schar lärmender Stare.

Um die Zeit, als langsam die Straßenlaternen angingen, kamen sie hereinmarschiert, um heiße Schokolade und Kekse zu verzehren. Das Haus war sehr festlich, aber trotzdem kinderfreundlich dekoriert. Im Garten ist immer ein Weihnachtsdorf aufgebaut, und die Kinder dürfen Spielzeugautos von Haus zu Haus schieben. Eine kleine Reihe Spielzeughäuschen steht auf dem Kaminsims, wo wir auch die von Nonny selbst gestrickten Weihnachtssocken aufhängen. Diese sind aus dehnbarem Material hergestellt und ermöglichen so eine maximale Befüllung mit allerlei Überraschungen.

Der herrlich grüne Weihnachtsbaum, frisch gefällt und wunderbar duftend, war mit schweren Ornamenten behängt und befand sich auf einem Ständer, der unter dem Baum genug Raum für all die vielen Geschenke ließ.

Abbie mit ihren elf Jahren wusste natürlich schon Bescheid, aber Annabel und Adelynn waren noch von der Vorstellung fasziniert, dass der Weihnachtsmann darüber informiert sei, dass unsere Familie Weihnachten bei Gran Jan und P Paw verbringen würde, und er ihre Spielsachen, Bücher und neuen Kleider bitte dort abgeben solle. Die traditionellen Weihnachtspyjamas gab es bereits an Heiligabend, auf den Rest mussten die Kinder bis zum Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages warten.

Das riesige Zimmer, in dem wir immer die Geschenke auspacken, ist mit antiken Bauernwerkzeugen dekoriert, unter anderem mit einem ausgedienten Pferdepflug von dem alten Hof der Familie in Indiana.

In jedem Winkel stecken Erinnerungen an P Paws Mutter Mimi und die Farm. Die Mädchen hatten immer eine herrliche Zeit gehabt, wenn wir sie dort besuchten, genauso wie Kevin, als er noch ein Junge war. Richtig kennengelernt hatten die Mädchen Mimi aber erst, nachdem sie in ein Apartment in einer betreuten Wohnanlage in der Nähe von Kevins Eltern in Houston gezogen...