In den Händen der Ärzte - Ignaz Semmelweis - Pionier der Hygiene

von: Anna Durnová

Residenz Verlag, 2015

ISBN: 9783701745043 , 248 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

In den Händen der Ärzte - Ignaz Semmelweis - Pionier der Hygiene


 

Die zerbrechliche Waschschüssel


Wir begeben uns auf die Reise nach Wien zwischen 1846 und 1850, in die Geburtsklinik des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, und beginnen bei einer Waschschüssel. Sie steht noch heute in der Sammlung des Josephinums, des Museums für Medizingeschichte in der Währinger Straße im 9. Bezirk von Wien. Sie wirkt bescheiden und alltäglich. Eine Waschschüssel eben. In jenen fünf Jahren, die Gegenstand dieses Buches sind, wurde diese Waschschüssel zu einem heftigen Streitobjekt. Sie bewirkte Hoffnungen, Ängste, Instrumentalisierungen von Personen, Entlassungen und politische Kämpfe. Sie diente Ignaz Semmelweis zur Verbreitung der Handdesinfektions-Methode für Ärzte.

Dieses Buch gibt einen Überblick, wofür diese Waschschüssel noch steht und was sie uns eigentlich verdeutlichen kann, außer dass Händewaschen ein wesentlicher Teil unseres, nicht nur medizinischen, Alltags geworden ist. Die Waschschüssel von Semmelweis verbirgt den »Fall Semmelweis«, eine gewachsene und verwachsene Kontroverse, dessen Geschichte wir erzählen wollen. Denn der Fall Semmelweis ist keinesfalls ein lediglich historischer Konflikt. Er steht für alles, womit sich jede neue Erkenntnis herumschlagen muss. Zunächst bringt der Fall die zweischneidige Waffe der Medizin zum Vorschein, welche immer wieder ans Tageslicht kommt, wenn neue Erkenntnisse kundgemacht und diskutiert werden. Der Blick in die Geschichte der Medizin zeigt, dass dies keinesfalls ein Zeichen der modernen hochtechnologischen Zeit ist, sondern dass die Medizin, praktisch seit jeher, nicht nur heilt, sondern auch fortschreiten will, und genau auf diesem Weg begeht sie folgenreiche Fehler. Sie ringt um die Wahrheit, und so sind Fehler oft ein fester und logischer Bestandteil dieses Kampfes.

Jahrhundertelang untersuchten Geburtshelfer die Mütter, ohne zu wissen, dass auf ihren Händen tödliche Keime ruhten und dass sie auf diese Weise das Kindbettfieber verursachten. Jede sechste Mutter starb bei der Geburt an Kindbettfieber, als Ignaz Philipp Semmelweis die Bühne betrat und die mangelnde Handhygiene als Ursache des Kindbettfiebers erklärte. Bis er die Ursache für die Krankheit gefunden hatte und bis seine Praxis der Händedesinfektion von den Fachkollegen akzeptiert wurde, starben noch weitere Zehntausende Mütter. Der Titel »In den Händen der Ärzte« steht somit für die Mehrdeutigkeit dieses Kampfes für die Wahrheit. In den Händen der Ärzte verbarg sich das Übel, das Semmelweis mit seiner Waschschüssel zu bekämpfen suchte. In den Händen der Ärzte lag das Schicksal der Mütter der Wiener Geburtsklinik. In den Händen der Ärzte befand sich auch die Macht, den furchtbaren Sterbestatistiken dieser Mütter ein Ende zu machen.

Das Buch hat demnach den Anspruch, das feine Gespür für gesundheitliche Kontroversen beim Leser zu erwecken. Es wird hier von der Suche nach dem entscheidenden Ereignis oder nach dem entscheidenden Fehler des Hauptdarstellers abgesehen. Gesundheitliche Kontroversen haben nämlich weder einen einzelnen Auslöser noch einen einheitlichen Austräger und sie können auch nicht mit bloßem Pro und Kontra erklärt werden. Vielmehr sind solche Kontroversen ein Bündel aus akzeptiertem und neuem Wissen, aus Hoffnungen und Ängsten, aus Ansprüchen an die beteiligten Personen, die das neue Wissen verbreiten oder ablehnen. Kurzum sind sie ein Konglomerat, das wir durch sogenannte Diskurse analysieren können. Diskurse als Bedeutungsgeflechte und so etwas wie komplexe Gedächtniskarten, die uns den Weg weisen, uns dem Fall Semmelweis anzunähern.

Wir leben in einer Zeit, in der Infektionen und ihre Verbreitung durch Kontaktinfektionen nicht mehr bestritten werden. Es wird zwar geforscht und diskutiert, welche Mittel die besten sind, wie schnell beziehungsweise kurz der Kontakt mit dem infizierten Stoff sein muss, bevor die Krankheit sich verbreitet, aber das Prinzip der Handhygiene gilt als bewiesen. Genau das war zu Semmelweis’ Lebzeiten noch nicht der Fall. Die Art und Weise, wie heute mit Händewaschen umgegangen wird, stellt daher eine treffende Analogie zur Geschichte des Kindbettfiebers dar, in der der Arzt und Geburtshelfer Ignaz Philipp Semmelweis die Hauptrolle spielt.

Als Assistenzarzt der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe war er seit seinem Antrittsjahr an der Wiener Geburtsklinik im Jahre 1846 über die mehrmaligen heftigen Ausbrüche des Kindbettfiebers bei gebärenden Müttern besorgt. Die Sterblichkeitsraten erreichten manchmal dreißig Prozent. Er stellte Beobachtungen an und forderte von seinen Kollegen, die Hände vor jeder Untersuchung ordentlich mit einer Chlorkalklösung zu desinfizieren, zusätzlich zum üblichen Waschen mit Seife. Dies löste eine Kontroverse aus, die Semmelweis zu seinen Lebenszeiten nicht beenden konnte. Die Gründe dafür werden von seinen Biografen unterschiedlich bewertet.

Seine leidenschaftliche Jagd auf die Ärzte, wie sie von manchen Historikern beschrieben wird, stellte für viele seiner Zeitgenossen eine unnötige Hysterie dar, denn offensichtliche Beweise fehlten Ignaz Semmelweis, um zu erklären, was genau an den Händen haftete und wie es in die Körper der Mütter gelangte. Für Semmelweis war dagegen die Gelassenheit, mit der manche Ärzte das Kindbettfieber den Luftbedingungen zuschrieben und sie als Epidemien klassifizierten, genau jene Verharmlosung des Problems, durch die der einfache Lösungsansatz der entsprechenden Händehygiene gehemmt wurde. Wir wollen hier hinter den Vorhang dieser Vermutungen und Erklärungen sehen und eine andere Perspektive auf die Geschichte anbieten. Warum war die Einführung des Händewaschens in einer Chlorkalklösung für manche seiner Kollegen so umstritten? Was brachte den talentierten und fröhlichen Arzt dazu, eine wilde emotionsgeladene Kampagne zu führen? Die bis heute erhaltenen Spuren helfen uns, die Bausteine dieses Konflikts zu rekonstruieren. Sie führen uns hinter die Kulissen des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Ignaz Philipp Semmelweis war von 1846 bis 1849 als Assistenzarzt an der Ersten Abteilung der Geburtshilfe im AKH beschäftigt und in diesen Jahren führte er den Hauptteil seiner Untersuchungen zum Kindbettfieber durch.

Während des Blicks hinter die Kulissen behalten wir die heutige Zeit im Auge, um deutlich zu machen, wie und warum sich im Zuge der Geschichte die Wahrnehmung von Handhygiene, Frauenkörpern und von der Medizin gewandelt hat. Gleichzeitig werden die kurzen Exkurse in die heutigen Gesundheitskampagnen und die aktuellen Diskussionen über Händehygiene zeigen, wie diese Wahrnehmungen sich stets in einem Bündel von Fakten und Emotionen bewegen und dass dieser Kampf bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Wie bei Semmelweis löst noch heute das Thema der Handhygiene der Ärzte Emotionen aus, deren Erklärung uns der historische Fall anbieten kann. Deshalb bieten wir hier ein Umfeld aus Bildern, der Korrespondenz von Semmelweis, Gegenständen, die sich bis heute in Museen erhalten haben, Protokollen der wissenschaftliche Debatten von Semmelweis’ Kollegen sowie Büchern, die Semmelweis entweder hochloben oder ihn zum irrenden Wissenschaftler erklären. Vor dieser Kulisse öffnet sich für uns eine neue Perspektive auf den Kampf Semmelweis’, einen Kampf, in dem nicht seine Person, sondern das Gesamtbild des von ihm vorgeschlagenen Wissens auf ein anderes, schon vorhandenes Wissen prallt. Diese Sicht ermöglicht uns nicht nur dem Pionier der Handhygiene auf die Hände zu sehen, sondern vor allem zu beobachten, was Wissenschaft braucht, um sich ihre Wahrheit zu erkämpfen; und ob sie diese Wahrheit überhaupt je erkämpfen kann.

Warum ein weiteres Buch über Semmelweis, könnte sich mancher Leser und manche Leserin fragen. Ein kurzes Nachschlagen in Bibliothekskatalogen ergibt über Dutzende Arbeiten über diesen Pionier der Handhygiene und Retter der Mütter, wie er meistens genannt wird. Auf den ersten Blick ist über Ignaz Philipp Semmelweis bereits alles erforscht worden: seine gescheiterte Karriere; sein kompliziertes Verhalten und die dadurch vermutete Geisteserkrankung; seine mögliche Involvierung in die politischen Kämpfe rund um das Revolutionsjahr 1848; sein Beitrag zu dem, was man heute Evidenzbasierte Medizin nennt. Der Fall Semmelweis scheint abgeschlossen zu sein. Dennoch greifen wir das Thema auf. Denn der Fall Semmelweis lebt weiter: im Licht der heutigen Diskussionen rund um den medizinischen Fortschritt, in unseren Vorstellungen über Wissenschaft samt ihren Erfolgen und Fehlschlägen.

Gleichzeitig bedeutet dies, dass es mehrere Geschichten über Semmelweis gibt und geben muss. Der Fall Semmelweis ist mit der Zeit zur Ikone, zum Symbol geworden, der, so wie damals seine Waschschüssel, Hoffnungen, Ängste, Werte, Stellungnahmen und Schlüsse nach sich gezogen hat und heute noch zieht. Er ist selbst zu einem Diskurs geworden und wir verschaffen uns hier einen Überblick über dieses symbolische Gebilde. Dem Leser werden die Bausteine des Falls Semmelweis an die Hand gegeben sowie eine weiterführende Literaturliste am Ende des Buches. Diese...