Die Sünde der Engel - Kriminalroman

von: Charlotte Link

Blanvalet, 2000

ISBN: 9783894805715 , 336 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die Sünde der Engel - Kriminalroman


 

"FREITAG, 9. JUNI 1995 (S. 167-168)

Der Morgen verhieß einen heißen, wolkenlosen Tag. Es war kurz nach acht Uhr, als Maximilian in Duverelle aus dem Bus stieg, und schon zu dieser frühen Stunde stand das Thermometer auf siebenundzwanzig Grad. Als glei-βend helle Scheibe kletterte die Sonne am östlichen Horizont in den Himmel. Ein Windhauch wirbelte Staub von der Straße auf und trug einen intensiven Geruch nach Rosmarin mit sich.

Maximilian ging langsam an den wenigen weißen, kleinen Häusern entlang, überquerte den Marktplatz, auf dem die Bauern der Umgebung dabei waren, ihre Stände für den heutigen Markttag aufzubauen. Es roch nach frisch gebackenem Brot und nach Gewürzen der Provence. Er hatte es nicht eilig, denn nun, fast am Ziel, wurde er immer unsicherer, was er tun sollte. Hatte Mario ein Mädchen bei sich? Und wenn ja, so hatte er ihm sicherlich nichts von der Existenz eines Zwillingsbruders erzählt. Er würde ein riesiges Durcheinander anrichten, wenn er jetzt plötzlich auftauchte. Konnte er einfach hineinschneien und »Hallo, hier bin ich!« sagen? Sein Bruder wäre entsetzt und vielleicht wütend, das Mädchen - so es ein solches gab - bekäme den Schreck seines Lebens.

Zudem sah er auch noch ziemlich anstößig aus; einer der Bauern stellte alte Möbel zum Verkauf, und in einem silbergerahmten Spiegel konnte sich Maximilian kurz mustern. Er fühlte sich ziemlich entmutigt. Die grauen Schatten eines stoppeligen Drei-Tage-Barts bedeckten sein Gesicht. Die Augen waren gerötet vor Müdigkeit. Er wirkte schmutzig und zerknittert, hungrig und ausgelaugt. Sowie er die Hände aus den Taschen seiner Lederjacke zog, wurde deutlich, daß sie heftig zitterten.

Er fand, daß er aussah wie ein entsprungener Sträfling, und erst als er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, fiel ihm auf, daß er in gewisser Weise genau das war. Als er am Ferienhaus anlangte, überkam ihn ein wehmütiges und zugleich friedvolles Gefühl. Das Haus aus weißgrauen Steinen, das da im Schatten hoher Kirschbäume träumte, war ihm vertraut seit frühester Kindheit. Es stand für Familienferien weitab von Alltagssorgen und Problemen, für heitere, lange, heiße Sommertage, Grillabende im Garten, Streifzüge durch die Lavendelfelder und stundenlanges Träumen in den Wiesen voller Mohn, für lange Gespräche und sorgloses Gelächter.

Es stand für alles, was hätte sein können, was ihr Leben hätte ausmachen können. Für alles, was sie verloren hatten. Es lag friedlich und wie schlafend in der Morgensonne, die sich in den nach Osten gerichteten kleinen Fensterscheiben blitzend spiegelte. Der taubenetzte Garten schien eine blühende Oase. Auf der vorderen Veranda standen zwei Liegestühle, darauf lagen noch die weißgelb gestreiften Sitzkissen, über der Nichts deutete auf das geringste Problem hin.

Und doch verstärkte sich plötzlich das Gefühl der Furcht und Beklemmung, das Maximilian die ganze Reise überhaupt hatte antreten lassen. Er schaute sich um, suchte nach etwas, das seine Sorge handfest untermauern würde, einen Hinweis darauf, daß etwas nicht in Ordnung war. Überrascht stellte er dabei plötzlich fest, daß kein Auto in der Einfahrt parkte. Er umrundete das Grundstück, um zu sehen, ob Mario seinen Wagen vielleicht anderswo abgestellt hatte, aber er konnte das Fahrzeug an keiner Stelle entdecken. Das erstaunte ihn sehr, denn er war überzeugt gewesen, daß Mario die Reise mit dem Auto angetreten hatte."