Von Angst bis Zwang - Ein ABC der psychischen Störungen: Formen, Ursachen und Behandlung

von: Sven Barnow, Harald J. Freyberger, Wolfgang Fischer, Michael Linden (Hrsg.)

Hogrefe AG, 2008

ISBN: 9783456944951 , 299 Seiten

3. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 25,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Von Angst bis Zwang - Ein ABC der psychischen Störungen: Formen, Ursachen und Behandlung


 

Psychopharmakotherapie - Möglichkeiten und Grenzen (S. 33-34)

Kerstin Birke und Harald J. Freyberger

1. Was sind Psychopharmaka und wie ist ihre Bedeutung für die Behandlung einzuschätzen?

Bei vielen Menschen löst auch heute noch das Angebot einer psychopharmakologischen Behandlung Ängste und Befürchtungen aus. Die häufigsten Fragen lauten: Was sind eigentlich Psychopharmaka? Werde ich davon abhängig? Habe ich nicht mit furchtbaren Nebenwirkungen zu rechnen? Ist es nicht viel besser und effektiver, sich mit anderen Methoden, z.B. Psychotherapie behandeln zu lassen? Zum Teil sind diese Ängste und Befürchtungen gerechtfertigt, zum Teil aber auch nicht. Deshalb ist es für jeden Betroffenen lohnend, sich mit diesen Fragen kritisch auseinanderzusetzen. Der Psychiater Benkert hat 1995 mit seiner Arbeitsgruppe eine repräsentative Bevölkerungsumfrage und eine Analyse von Berichten über Psychopharmaka in den Medien durchgeführt und sich damit wissenschaftlich mit diesen Ängsten und Befürchtungen befasst. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden in einer weiteren Studie 2004 (Angermeyer &, Matschinger, 2004) bestätigt, wobei sich zeigte, dass sich im Verlauf von zehn Jahren der Informations- und Kenntnisstand der Bevölkerung zu Psychopharmaka deutlich verbessert hat. Aber es sind nach wie vor erhebliche Informationsdefizite über Art und Schweregrad psychischer Erkrankungen in der Bevölkerung zu finden. Depressionen werden z.B. häufig nicht als Krankheit, sondern eher als Befindlichkeitsstörungen verstanden und nur wenige Menschen halten eine medikamentöse Behandlung für erforderlich, obgleich deren Wirksamkeit heute eindeutig wissenschaftlich belegt ist. Schwerwiegende Symptome einer Depression wie Denk- und Antriebshemmung sowie die hohe Suizidgefährdung sind kaum bekannt. Auch die Kenntnisse über Wirkungsweisen und Verwendungszweck von Psychopharmaka erwiesen sich als vollkommen unzureichend. Interessant ist, dass Personen, die noch nie mit Psychopharmaka zu tun hatten, ihnen mehr negative als positive Wirkungen zuschreiben, während Personen mit Behandlungserfahrungen die negativen Eigenschaften der Medikamente zwar ebenfalls benennen, jedoch deutlich häufiger auch über deren positive Wirkungen berichten. Mehr als zwei Drittel der Befragten der Studie meinten, dass Psychopharmaka süchtig machen, obgleich dies nur für einen kleinen Teil der Substanzen zutrifft. Dies könnte eng mit der manchmal einseitigen und negativen Berichterstattung in den Medien zusammenhängen, die häufig nahe legt, dass es sich bei Psychopharmaka grundsätzlich um schädliche, süchtig machende, zumindest aber unnötige Medikamente handelt. Etwa 50 Prozent der Befragten äußerte auch Angst vor einem Kontroll- und Identitätsverlust, obwohl viele der Medikamente gerade dazu dienen, die bei einigen psychischen Erkrankungen verloren gegangene Kontrolle über bestimmte psychische Funktionen wiederzugewinnen.

Doch zunächst: Was sind Psychopharmaka und seit wann und warum werden sie in der Psychiatrie und Psychotherapie eingesetzt? Als Psychopharmaka bezeichnet man natürlich vorkommende (z.B. Johanniskraut) oder chemisch-synthetisch hergestellte Substanzen und Stoffe, die unser zentrales Nervensystem beeinflussen und damit unsere Wahrnehmung, unser Handeln und unsere Gefühlswelt verändern. Ihre Wirksamkeit betrifft in aller Regel die Reduktion und/oder Stabilisierung bestimmter Symptome bzw. eine Senkung des Wiedererkrankungsrisikos bei längerer Gabe. In der Medizin werden einige Substanzen seit Hunderten von Jahren verwendet, eine systematische Erforschung setzte aber erst im 20. Jahrhundert ein. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Behandlungsmöglichkeiten in der Psychiatrie vor allem für schwere psychische Störungen, wie etwa den schizophrenen Erkrankungen sehr begrenzt.Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden von so namhaften Psychiatern wie Emil Kraepelin Kalt- und Warmwasserkuren, Wassergüsse, Überraschungsbäder über mehrere Tage neben verschiedensten Zwangsmaßnahmen empfohlen. Bei Depressionen erlangte historisch die Opiumkur mit auf- und absteigender Tropfenzahl Bedeutung. Julius Zador, Arzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Greifswald, machte 1928 den Gebrauch von Lachgas in der Psychiatrie populär. Bedeutung hatten Schlafkuren mit Barbituraten und Fiebertherapien. In den 1930er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurden die Insulin-Koma-Therapie (d. h. die künstliche Auslösung eines diabetischen Komas zu therapeutischen Zwecken) und die sog. Elektroschocktherapie entwickelt.