Handbuch der Rechtspsychologie (Reihe: Handbuch der Psychologie, Bd. 9)

von: Renate Volbert, Max Steller (Hrsg.)

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2008

ISBN: 9783840918513 , 652 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 52,99 EUR

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Handbuch der Rechtspsychologie (Reihe: Handbuch der Psychologie, Bd. 9)


 

2 Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit (S. 291-292)

2.1 Entwicklungspsychologisch bedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit
Entwicklungspsychologische Studien zeigen, dass bereits Kinder im Alter von 2 bis 3 Jahren Ereignisse angemessen wahrnehmen und oft über einen langen Zeitraum behalten können. Sie machen aber auch deutlich, dass junge Kinder zunächst noch erhebliche Schwierigkeiten haben, gespeicherte Informationen selbstständig abzurufen und dass sie deswegen regelmäßig auf spezifische Hinweisreize angewiesen sind (z. B. Fivush, 2002). Ferner fällt es jungen Kindern unter komplexen Bedingungen schwerer als älteren Kindern oder als Erwachsenen, die Quellen von Gedächtnisrepräsentationen richtig zuzuordnen. Quellenverwechslungen tragen zur Generierung von Pseudoerinnerungen bei.

Empirische Belege für recht gute autobiografische Gedächtnisleistungen von jungen Kindern (z.B. Fivush & Schwarzmueller, 1998) implizieren deswegen nicht notwendigerweise, dass die Kinder über ausreichende Fähigkeiten verfügen, um forensisch verwertbare Aussagen zu machen. Die Vorgabe von spezifischen Hinweisreizen ist wenig problematisch, wenn Sicherheit darüber besteht, dass ein erfragtes Ereignis tatsächlich vorgefallen ist. In vielen entwicklungspsychologischen Untersuchungen sind die Befragenden zwar nicht immer über jedes Detail eines Ereignisses vorab informiert, besitzen aber die Sicherheit über einen prinzipiellen Erlebnishintergrund.

Bei Kindern bis zum vierten Lebensjahr sind die Antworten selbst unter diesen Bedingungen noch sehr fehlerbehaftet. Da in der forensischen Praxis aber eine Begutachtung der Aussage eines Kindes, häufig auch schon die Aussage selbst gar nicht notwendig wäre, wenn das relevante Ereignis bekannt wäre, ist von anderen Voraussetzungen auszugehen: Es müssen verständliche und zuverlässige Aussagen über Ereignisse abgegeben werden können, bei denen keine dritte Person anwesend war. Liegen keine Informationen über das fragliche Ereignis vor oder steht überhaupt in Frage, ob ein vermutetes Ereignis stattgefunden hat, ist die Gefahr groß, dass spezifische Hinweisreize und Fragen falsche Informationen enthalten. Dies wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit von Suggestionseffekten bei prinzipiell erlebnisbasierten Aussagen oder die komplette Induzierung einer falschen Erinnerung (Suggestion).

Befragungen in der forensischen Praxis finden zudem oft Wochen, Monate oder Jahre nach dem fraglichen Ereignis statt. Zwar ist nicht konsistent belegt, dass Kinder nach einem längeren Behaltensintervall weniger Details und mehr Fehler produzieren, generell wurde aber gefunden, dass bei Befragungen von jungen im Vergleich zu älteren Kindern oder zu Erwachsenen nach längerem Intervall jeweils mehr Hinweisreize notwendig sind als bei zeitnahen Befragungen. Die Gefahr, dass Aussagen durch Suggestionseffekte beeinträchtigt werden, ist umso höher, je mehr Hinweisreize gegeben werden müssen, und Quellenverwechslungen treten besonders dann auf, wenn zwischen tatsächlichem oder vermeintlichem Ursprungsereignis und Befragung ein langer Zeitraum liegt. Für die Übertragbarkeit der Befunde zu Erinnerungsleistungen von Kindern auf forensische Situationen fehlen bislang ergänzende Untersuchungen, die die Aussagegenauigkeit von durch uninformierte Befragende evozierten Darstellungen von Kindern prüfen. Es ist zu vermuten, dass die Aussageleistungen von jungen Kindern in forensischen Praxissituationen eher quantitativ geringer und fehlerbehafteter sind als in den referierten entwicklungspsychologischen Untersuchungen.