Demenzkranke Menschen pflegen

von: Sven Lind

Hogrefe AG, 2007

ISBN: 9783456944579 , 238 Seiten

2. Auflage

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 26,99 EUR

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Demenzkranke Menschen pflegen


 

4. Selbstwahrnehmung (S. 105-106)

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Demenzkranke noch über die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Pflegenden in ihrer jeweiligen Befindlichkeit verfügen (siehe Abschnitt 3.4). Sie spüren den Stress und die Hektik bei ihren Interaktionspartnern und reagieren entsprechend mit Abwehr, Flucht oder Pflegeverweigerung. Sie spüren andererseits auch genau die Wärme, Freundlichkeit und das Einfühlungsvermögen der sie pflegenden Mitarbeiter.

Für Pflegende und andere Betreuungspersonen stellt sich in diesem Kontext somit eine neue Aufgabe. Es gilt nicht nur die Bewohner, sondern nun auch sich selbst zu beobachten und auf die Wirkung der eigenen Person auf die Demenzkranken genau zu achten.

Im folgenden Kapitel geht es vorrangig um die Aspekte, die die Kommunikation mit den Demenzkranken beeinträchtigen bzw. erschweren. Diese Faktoren sind den Betroffenen oft gar nicht im Alltag des Pflegens und Betreuens bewusst, sie besitzen jedoch einen großen Einfluss auf die Betroffenen und bedürfen daher der eingehenden Darstellung und Erläuterung.

Für Pflegende ist es von großer Bedeutung, sich zu vergewissern, dass der Wohnbereich für sie Arbeitsplatz und berufliches Tätigkeitsfeld, jedoch nur einen Teilbereich ihres Lebens darstellt.

Für Demenzkranke hingegen ist der Wohnbereich die eigene Lebenswelt, der Raum für alle ihre Lebensäußerungen, Lebensmittelpunkt und Heimat in einem. Diese Feststellung mag banal und trivial sein, sie deutet jedoch auch auf einige wesentliche Strukturelemente hin:

• Zwei Sinnzusammenhänge: Pflegende arbeiten und Demenzkranke leben auf Station, wobei die Arbeit der Pflegenden erst das Leben und die Lebensqualität der Bewohner ermöglicht.

• Zwei Geschwindigkeiten: «Zeitkorridore» und der damit verbundene Arbeitsdruck laufen mit der eigenweltlichen Lebensgestaltung der Bewohner parallel.

• Zwei Gestaltungsweisen: Pflegende strukturieren, organisieren und gestalten die Lebenswelt, während die Bewohner die Empfänger dieser Leistungen sind.

• Zwei Perspektiven: Arbeitsplatz, vielleicht nur begrenzt und mittelfristig für die einen und letzte Lebenswelt und Heimat für die anderen.

Die Vergegenwärtigung, dass sich im Heim Arbeitswelt und Lebenswelt überschneiden, kann wiederum der erste Schritt für ein bewusstes Einfühlen in die Lebenssituation des Bewohners bedeuten.

Im Folgenden werden einzelne Faktoren der Selbstwahrnehmung und Regulationsmechanismen in den Heimen dargestellt.

4.1 Das eigene Stressniveau

Die Pflege in den stationären Einrichtungen ist in manchen Situationen wie bei unterdurchschnittlicher Personalbesetzung (aufgrund von Krankmeldungen etc.) oder unvorhergesehenen Mehrarbeiten (z. B. von Akuterkrankungen mehrerer Bewohner) von Hektik und Überstress geprägt. Pflegende spüren diese Überforderungssymptome sowohl physiologisch als auch psychisch. Sie spüren auch, dass sie in diesen Situationen zu ruhigen und gelassenen Interaktionen mit Bewohnern nicht mehr in der Lage sind. Denn aufgrund ihrer Anspannung und Hektik ist ihr Wahrnehmungsund Reaktionsvermögen bezogen auf die zwischenmenschliche Sensibilität stark beeinträchtigt.

Im übertragenen Sinne hat man in diesem Zustand das Empfinden, im 5. Gang auf der Überholspur zu rasen.

In diesem Zustand sind Pflegende in der Regel für Demenzkranke nicht mehr kommunikationsfähig. Denn Hektik und Stress werden von den Bewohnern aufgrund der noch gut erhaltenen psychosozialen Sensibilität sofort wahrgenommen und als Bedrohung und Belastung empfunden. Sie reagieren darauf mit Abwehrverhalten, Flucht und Aggressivität. Dass Hektik und Stress zum Alltag der Pflegenden in den Heimen gehört, haben eine Reihe von Untersuchungen und Erhebungen in den letzten Jahren ergeben (Zimber et al., 1999).